Die blutigen Kämpfe in der Ukraine treffen vermehrt die Zivilbevölkerung. Eine russische Rakete zerstörte im Jänner ein mehrstöckiges Wohnhaus in Dnipro.

Foto: Reuters / Clodagh Kilcoyne

Es sollte eine schnelle, erfolgreiche "Spezialoperation" werden, der Einmarsch in die Ukraine vor knapp einem Jahr. Im Gespräch mit dem STANDARD ging der Politologe Wladimir Gel’man damals davon aus, dass die "Operation lange geplant war, dass die diplomatischen Anstrengungen zuvor keine Rolle gespielt haben".

Und heute, fast ein Jahr später? Aus der schnellen "Operation" sind lang andauernde Kämpfe geworden. Die Schlacht um die Kleinstädte Bachmut und Soledar im Norden des Gebiets Donezk zählen zu den blutigsten seit Monaten. Vermutlich starben tausende Soldaten auf beiden Seiten. Nach den schmerzhaften Niederlagen im Herbst, als russische Truppen sich aus dem Gebiet Charkiw im Norden und später aus Cherson im Süden der Ukraine zurückziehen mussten, scheint das russische Militär nunmehr wieder erfolgreich zu sein.

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DER STANDARD

Wagner-Machtkampf

Zu verdanken ist dies der erbarmungslos kämpfenden Wagner-Truppe. Jener Privatarmee des Unternehmers Jewgeni Prigoschin, dessen bislang größter militärischer Erfolg wohl die von Kiew dementierte Einnahme der Stadt Soledar ist. Diese verkündete Prigoschin als Erster. Erst später bestätigte dies auch das russische Verteidigungsministerium. Was folgte, war ein erbitterter Streit zwischen Verteidigungsministerium und dem Wagner-Chef, wer den Erfolg für sich verbuchen kann. Nicht das erste Kompetenzgerangel.

Schon zuvor hatte Präsident Wladimir Putin Sergej Surowikin, den von Prigoschin geschätzten Oberbefehlshaber der Truppen in der Ukraine, gegen seinen Generalstabschef Waleri Gerassimow ausgetauscht und Surowikin zum Stellvertreter degradiert. Die kolportierte Forderung des Kreml-Chefs an seinen neuen Oberbefehlshaber, den Donbass bis März einzunehmen, lässt sich – wenn überhaupt – nur mit frischen Kräften erreichen. Deshalb nehmen Spekulationen um eine erneute Mobilmachung zu.

Auch der Ukraine scheinen die Soldaten auszugehen. Die seit Kriegsbeginn laufende Mobilmachung wird allem Anschein nach verstärkt betrieben. Im Kiewer Stadtteil Holossijiw sollen sich bei Strafandrohung alle Männer im wehrfähigen Alter bis Monatsende beim Kreiswehrersatzamt melden. In sozialen Netzwerken machen Videos die Runde, wie auf den Straßen der Großstädte Odessa, Charkiw und Mykolajiw Vorladungen verteilt werden.

Gelassener Kreml

Kiew versucht Schritt für Schritt, die Nato in den Konflikt mit hineinzuziehen. Nunmehr werden Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 und Abrams geliefert. Auf die überschaubare Stückzahl reagiert Russland gelassen und mit erwartbaren Argumenten. Maria Sacharowa, die Sprecherin von Außenminister Sergej Lawrow, sagt: "Die Lieferung von Panzern wird die Situation natürlich nicht zugunsten des Kiewer Regimes ändern. Aber sie bringt die westlichen Länder auf eine neue Ebene der Konfrontation mit unserem Land, mit unserem Volk."

Als nächsten Schritt fordert die Ukraine die Lieferung moderner Kampfflugzeuge. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Wirtschaftsminister Robert Habeck haben sich dagegen ausgesprochen. Entschieden ist aber noch nichts. Fest steht: Das neutrale Österreich liefert generell keine Waffen an die Ukraine.

Zustimmung in vielen EU-Ländern bröckelt

Immer neue Milliarden für den Staatshaushalt der Ukraine, immer neue Waffenlieferungen – in vielen EU-Ländern bröckelt die Zustimmung. Nach einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos sind in Deutschland 75 Prozent der Befragten der Meinung, dass Berlin es vermeiden solle, sich direkt militärisch in den Konflikt einzumischen. "Dass weitere Waffenlieferungen, einschließlich Leopard-2-Panzern, keine schnelle Lösung herbeibringen, sondern den Krieg in der Ukraine immer mehr eskalieren lassen, ist eine berechtigte Sorge der deutschen Bevölkerung", sagt Robert Grimm von Ipsos.

Auch die Bevölkerung Russlands glaubt, dass die sogenannte "Spezialoperation" noch länger dauern wird, so zitiert "Wedomosti" eine Studie der Consultingfirma Polylog. Bis zu ein Jahr, glauben 45 Prozent der Befragten, nur 18 Prozent sagen, es werde weniger als sechs Monate dauern. Während es in den westlichen Ländern große Zukunftsängste wegen hoher Energiekosten, Inflation und Milliardenhilfen gibt, sehen die Russen gelassener auf ihre Situation. 34 Prozent gehen davon aus, dass sich ihr Lebensstandard nicht ändern wird, 29 Prozent fürchten Einbußen, 23 Prozent hingegen erwarten einen höheren Standard.

Weit entfernter Frieden

Vorbedingung dafür wäre Frieden. Doch wie diesen erreichen? Militärisch wird sich keine der beiden Seiten durchsetzen, prognostizieren Fachleute. Und Verhandlungen scheinen derzeit aussichtslos. Kiew will die Russen ganz aus dem eigenen Land vertreiben – auch von der annektierten Halbinsel Krim. Moskau hingegen beansprucht den Donbass und die im Herbst annektierten südukrainischen Gebiete Saporischschja und Cherson vollständig für sich, kontrolliert diese aber nur zum Teil. Das sind schwierige Vorbedingungen für einen Dialog. Die Kämpfe werden wohl weitergehen. Vermutlich noch lange. (Jo Angerer aus Moskau, 3.2.2023)