In Sachen Corona nun in den Normalzustand überzugehen sieht der Public-Health-Experte und Epidemiologe Hans-Peter Hutter im Gastkommentar skeptisch. Auch weil bald mit einer Verringerung der Bevölkerungsimmunität zu rechnen sei.

Wie tun mit der Maske? Wien ist vorsichtig, noch bleibt die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Foto: APA / Eva Manhart

Die Fragen "Wann ist die Pandemie zu Ende?" und "Wann haben wir unser altes Leben zurück?" wurden seit Beginn der Pandemie immer wieder gestellt. Waren es rhetorische Fragen, auf die sich die Menschen ohnehin keine Antwort mehr erwartet haben? Kanzler Sebastian Kurz erklärte die Pandemie bereits im Juli 2021 für beendet, US-Präsident Joe Biden im September 2022, und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein befand, wir müssten uns nur impfen lassen, damit wir zu unserem alten Leben zurückkehren können.

"Von einer Ausgewogenheit und Nachvollziehbarkeit war man meilenweit entfernt."

Politisches Wunschdenken oder strategische Überlegungen überlagerten des Öfteren wissenschaftliche Einschätzungen, die zur Vorsicht mahnten. Speziell was die hochstilisierte Diskussion zur "Maskenpflicht" betrifft. Der bisherige Verlauf der Pandemie war geprägt von einem teils wenig einsichtigen Hin und Her von sehr einschneidenden Maßnahmen mit (Teil-)Lockdowns bis hin zu abrupten Lockerungen oder der Abschaffungen der Quarantäne. Von einer Ausgewogenheit und Nachvollziehbarkeit war man meilenweit entfernt.

Nun hat Gesundheitsminister Johannes Rauch gemeinsam mit Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) verkündet, dass alle Corona-Maßnahmen spätestens Ende Juni auslaufen – nur Wien zeigt sich da noch zurückhaltend. Wobei eigentlich im Alltagsleben Maßnahmen ohnehin kaum mehr wahrnehmbar oder tatsächlich spürbar waren; außer man arbeitet – noch – in einem Spital.

Kein Überblick

Sowohl die Maskenpflicht also auch die so gelobte "österreichische Teststrategie – als wesentlicher Pfeiler der Pandemiebewältigung" – wurden doch schon längst abgeschafft oder minimalisiert. "Vor dem Hintergrund einer höheren Immunität in der Bevölkerung sollen Tests nun vor allem dort eingesetzt werden, wo sie gebraucht werden", heißt es (noch) auf der Homepage des Gesundheitsministeriums. Dies hat dazu geführt, dass wir kein brauchbares Bild der Infektionsentwicklung mehr haben. Eine Maskenpflicht gibt es, abgesehen von Kranken- und Kuranstalten, Alten- und Pflegeheimen und dergleichen, nur noch in den Wiener Öffis. Dass Letzteres ständig thematisiert wird – bei einer durchschnittlichen Tragezeit von zehn bis fünfzehn Minuten und obwohl man oft Nase an Nase steht –, ist nicht nachvollziehbar.

Die Erstellung von Covid-19-Präventionskonzepten für Zusammenkünfte mit mehr als 500 Personen ist ebenfalls auf eine Empfehlung, sich vorab zu testen, geschrumpft.

Und Personen, die positiv getestet wurden, müssen derzeit noch eine Maske tragen, um anderen eine Ansteckung zu ersparen.

"Reagiert man weiterhin nur dann, "wenn der Hut brennt"?"

Auf die wenigen Überbleibsel kommt es dann auch nicht mehr an, könnte man meinen. Selbst wenn Wartezeiten für Behandlungen, Untersuchungen in Notaufnahmen und auf planbare Operationen da und dort immer länger werden, kümmert das wenige. Und das vor dem Hintergrund, dass sich immer mehr medizinisches Personal frustriert verabschiedet.

Dabei könnte gerade jetzt endlich eine wichtige Frage geklärt werden: Reagiert man weiterhin nur dann, "wenn der Hut brennt", oder sollte doch vorsorgeorientiert gedacht und gehandelt werden? Im Grunde galt bisher das Motto: Fallzahlen steigen, Aktionen setzen – Fallzahlen sinken, Maßnahmen aussetzen.

"Infektionsrisiken können wirksam mit einfachen Mitteln reduziert werden."

Umsichtiger, vorausschauender Gesundheitsschutz sieht anders aus! Infektionsrisiken können wirksam mit einfachen Mitteln reduziert werden. Da darf man sich vor dem Gegenwind eines zur Dummheit verführten kleinen Teils der Bevölkerung nicht fürchten. Und es geht bei Maßnahmen darum, gesundheitlich relevante Begleiterscheinungen zu minimieren – zum Beispiel in Schulen Schutzmaßnahmen optimieren, statt Kinder ins Homeschooling zu senden. All das mit einer nachvollziehbaren Kontinuität ohne ständiges Hin und Her.

Die derzeitige epidemiologische Situation scheint angesichts niedriger Belagszahlen in Normal- und Intensivstationen verglichen mit den vorangegangenen Jahren entspannt. Dies ist einem partiellen Immunschutz der Bevölkerung durch Impfung und durchgemachter Infektion zu verdanken. Leider hält dieser Schutz aber nicht allzu lange an. Daher ist damit zu rechnen, dass es bald zu einer Verringerung dieser Bevölkerungsimmunität kommt. Speziell wenn die Impfwilligkeit noch mehr abnimmt – wovon man momentan ausgehen muss.

Nicht nur in China

Wenn man nun etwa aus China eine gewisse Gefahr verortet (Stichwort "explosionsartige Ausbreitung"), aber gleichzeitig darauf verweist, dass wir eine gute Bevölkerungsimmunität haben, so ist das schizophren, denn die Bevölkerungsimmunität in China ist höher als bei uns. In China haben rund 90 Prozent eine Grundimmunisierung, in Österreich 56 Prozent. Das Virus bekommt nicht nur in China, sondern praktisch weltweit gute Gelegenheit, sich zu verbreiten, zu verändern, und damit die Möglichkeit, die menschliche Immunität noch besser auszutricksen. Dass das passieren wird, ist so gut wie sicher, nur wann es bei uns zu bedeutsamen Auswirkungen kommt, kann niemand sagen.

Die derzeitige Situation ist sicher deutlich günstiger als letztes Jahr. Aber gleichzeitig bedeutet das nicht, so zu tun, als ob die Sache "gegessen" wäre. Außer man vertraut darauf, dass "eh alles nicht so schlimm werden wird". Aber würde man sich einem Bergführer anvertrauen, der sich darauf verlässt, dass das Wetter eh so bleibt, wie es ist, und jeder seinen Schutzengel dabeihat, der ihn vor Verletzungen bewahrt? Sodass man auf die Mitnahme von Regenschutz und Verbandsmaterial verzichten kann, denn so marschiert es sich leichter?

Wenn jetzt – nicht nur unter dem Eindruck des niederösterreichischen Wahlergebnisses und der anstehenden Landtagswahlen – der Normalzustand ausgerufen wird, statt ein paar einfachen Maßnahmen zu belassen, sollten wir unsere politisch Verantwortlichen doch danach fragen, was sie für den Fall der Fälle als Reserve vorbereitet haben. (Hans-Peter Hutter, 3.2.2023)