Es war etwa 23 Uhr, als Wega-Beamte am Mittwochabend einen durchtrainierten Familienanhang etwas grob aus dem Großen Schwurgerichtssaal am Wiener Landesgericht begleiteten. Der Mann hatte sich zuvor geweigert, bei der Urteilsverkündung im Wiener Terrorprozess aufzustehen. Eine Frau mit Kopftuch wanderte später in eine der vorderen Sitzreihen, um unter Tränen einen letzten Blick auf die Anklagebank zu erhaschen – ständig beobachtet von der schwerbewaffneten Justizwache.

Seit Oktober mussten sich in dem Verfahren sechs mutmaßliche Komplizen des Jihadisten K. F. verantworten, der am 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt vier Menschen erschossen und etliche weitere verletzt hatte. Die nicht rechtskräftigen Urteile haben es in sich: zweimal lebenslang, einmal 20 und einmal 19 Jahre wegen Mordbeihilfe. Nur in einem Fall fiel die Terrorkomponente weg. Zwei Angeklagte wurden von den Mordvorwürfen gänzlich freigesprochen. Als IS-Propagandisten fassten sie jedoch jeweils 24 Monate aus, davon 16 bedingt. Beide sind auf freiem Fuß, weil sie ihre Strafe schon in der U-Haft abgesessen haben.

Der Verteidiger Manfred Arbacher-Stöger erreichte für einen mutmaßlichen Terrorkomplizen einen Freispruch. Das Medieninteresse am Verhandlungsfinale war entsprechend riesig.
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  • Die Geschworenen Aber was bedeutet das Urteil für die Jihadistenszene in Österreich? Wie steht es derzeit um deren Gefahrenpotenzial? Und sind die Urteile am Ende gewöhnlich oder doch recht hoch ausgefallen?

Geht es nach Guido Steinberg, dann könnte das Geschworenenurteil vor allem für junge Jihadisten "ein Schock" gewesen sein. Der Islamwissenschafter hat sich in Österreich als Gerichtsgutachter einen Namen gemacht und kennt die Szene hierzulande. Gerade im Vergleich zu Deutschland seien die Urteile nämlich doch "sehr hart" ausgefallen. Bei einem Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt im Jahr 2016 war ein Jihadist mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge gefahren. 13 Menschen waren dabei gestorben, im Umfeld des Tunesiers aber "hatte es überhaupt keine Strafen gegeben", sagte Steinberg zu Ö1. Aus deutscher Sicht seien die Urteile daher "fast beeindruckend".

Der Wahrspruch

Die große Bandbreite zwischen Freisprüchen und Höchststrafen sorgt generell für Aufsehen. "Es zeigt, dass es sich Richter und Geschworene nicht einfach gemacht haben, sie sehr differenziert Sachverhalte und Beweise bewertet haben", sagt Alois Birklbauer vom Institut für Strafrechtswissenschaften der Johannes-Kepler-Universität in Linz. Ein derartiger Prozess ohne den unmittelbaren Haupttäter sei nicht einfach zu führen, der Vorwurf einer emotionalen Mittäterschaft immer schwer mit Beweisen zu untermauern, so Birklbauer. Da ein Wahrspruch der Geschworenen nicht begründet werden müsse, sieht der Strafrechtler auch keine großen Chancen für einen Einspruch gegen die Urteile. "Da müsste schon ein Formalfehler oder Fehler im Frageschema für die Beratungen der Laienrichter nachgewiesen werden", so Birklbauer.

  • Die auffällig Abwesenden In der Nachbetrachtung des Prozesses ist auch spannend, wer nicht auf der Anklagebank saß. Während der Waffenvermittler, der 32-jährige Tschetschene Adam M., nicht rechtskräftig zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde, blieb der mutmaßliche slowenische Waffenlieferant Marsel O. außen vor. Dessen Verfahren nach dem Waffen- und Kriegsmaterialgesetz wird getrennt geführt.

Ein Beschuldigter im Terrorprozess war O. deshalb nicht, so die Staatsanwaltschaft, weil man ihm nicht nachweisen konnte, dass er von den Anschlagsplänen des Attentäters gewusst hatte. Das gelang auch bei Adam M. nicht schlüssig – zumal er als Einziger nicht als Terrorist verurteilt wurde. Und jener Satz der Staatsanwältin lässt sich wohl nicht nur auf M. umlegen: "Eine Kalaschnikow wurde alleine deshalb gebaut, um andere zu töten."

Vermutlich hatte auch Argjend G. etwas Glück, nicht ins Verfahren gerutscht zu sein. Der 24-jährige Nordmazedonier gilt als radikaler "Durchlauferhitzer" des Attentäters. Eine direkte Beteiligung am Anschlag konnte ihm aber nie nachgewiesen werden. Allerdings soll er in einer eigens angemieteten Wohnung in St. Pölten radikale Predigten vor Gleichgesinnten gehalten haben. Auch der Attentäter sei kurz vor dem Anschlag dort gewesen. G. soll sich in der Nacht vor dem Attentat zudem noch mit dem Terroristen getroffen haben, wird im Akt gemutmaßt. Er dürfte zumindest an einem Senderstandort im unmittelbaren Nahebereich der Wohnung mit seinem Mobiltelefon eingeloggt gewesen sein.

G. selbst behauptete bisher, der Attentäter habe seine Wohnung nicht mehr bezahlen können. Deswegen sei er in der Nacht von St. Pölten zur Wohnung des Attentäters gefahren. Dieser habe allerdings auf sein Klopfen nicht reagiert und ihm nicht aufgemacht. Er habe diesen fragen wollen, ob er Geld brauche.

Das ähnelt dem Fall des Angeklagten Burak K. Der vorbestrafte Jihadist war ein Freund des Attentäters, wollte sich 2018 mit ihm dem IS anschließen, soll seinem Kumpan am Tag des Anschlags einen "Abschiedsbesuch" abgestattet und ihn zur Tatbegehung bestärkt sowie bei der Auswahl eines Angriffsziels unterstützt haben. Die Beweise blieben recht vage, für K. setzte es eine 20-jährige Haftstrafe.

Gegen Argjend G. wurde ein getrenntes Verfahren geführt. Er fasste zunächst 19 Monate wegen terroristischer Vereinigung und krimineller Organisation aus, was nachträglich auf 27 Monate erhöht wurde. Da G. schon zwei Jahre in Isolationshaft saß, kam er frei. Im Terrorprozess selbst trat er "nur" als Zeuge auf.

  • Die Gefahr bleibt Tatsache ist, der Jihadismus bleibt ein Sicherheitsproblem. "Es gibt noch immer eine Handvoll Leute, die genug ideologisiert sind, um einen Terroranschlag oder ähnlich strafbare Handlungen durchzuführen", heißt es von der Deradikalisierungsstelle Derad.

Dort hat man ständig mit Jugendlichen, auch mit Mädchen, zu tun, die vom Jihadismus angesteckt sind. Auch in Wien-Liesing, dem Bezirk des Attentäters, seien weiter Personen aktiv, die laut Derad ihre radikale Einstellung nie abgelegt haben. Sorge bereiten Ermittlern auch jene Jihadisten, die aus dem Gefängnis entlassen werden.

Aus Sicht des Experten Steinberg ist die Szene in Österreich durchaus "stärker dezimiert" als in anderen Ländern, "da unglaublich viele, vor allem Tschetschenen, nach Syrien zum IS gegangen und gestorben sind". Außerdem gebe es nach der Inhaftierung von Predigergrößen wie Mirsad O. im Moment keine sichtbare ideologische Autorität. Aber die Szene sei weiterhin aktiv, mit guten Verbindungen ins Ausland.

Wie wirkt sich das Urteil auf die Szene aus? "Das kann in beide Richtungen gehen", glaubt Steinberg. "Manche wird es radikalisieren oder auch desillusionieren, falls sie den Staat bisher nicht ernst genommen haben." (Jan Michael Marchart, Michael Simoner, 2.2.2023)