Sarah W. wurde als Kind und Jugendliche jahrelang sexuell missbraucht. Das ist 30 Jahre her – aber die Folgen spürt sie immer noch.
Foto: Heribert Corn

Die Vorwürfe gegen Florian Teichtmeister haben einen Abgrund der menschlichen Seele wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt: dass Kinder, jene Menschen, die unsere Gesellschaft am meisten schützen müsste, missbraucht werden, um die sexuellen Gelüste Erwachsener zu befriedigen. Was vielen als unglaublich erscheint, ist verbreiteter, als man sich vorstellen möchte. Schätzungen zufolge, die auf einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2013 basieren, sind ein bis zwei Kinder pro Schulklasse mit sexueller Gewalt konfrontiert. In Europa gibt es rund 18 Millionen betroffene Kinder, auf Österreich umgelegt sind das bei knapp 56.000 Schulklassen fast 90.000 Kinder.

Niedrige Aufklärungsrate

Nur ein geringer Teil der Fälle wird angezeigt oder aufgedeckt, in die Schätzungen wird deshalb eine Dunkelziffer einberechnet. Untersuchungen bestätigten diese Annahmen aber immer wieder, sagt Anna Schwitzer, Psychotherapeutin und Leiterin des Kinderschutzzentrums in Wien. Eine Studie aus dem Jahr 2016 untersuchte 2510 Erwachsene ab 14 in Deutschland mit dem Childhood Trauma Questionnaire auf Erfahrungen mit Kindesmisshandlung. Die Studie ergab, dass 2,3 Prozent der Teilnehmenden als Kind schweren sexuellen Missbrauch erlebt hatten, der Großteil davon waren Frauen.

Nachdem bekannt wurde, dass der Schauspieler Florian Teichtmeister jahrelang Darstellungen von Kindesmissbrauch auf seinem Laptop gesammelt hatte, soll nun das in Österreich sehr niedrige Strafmaß für sexuellen Missbrauch Minderjähriger angehoben werden. Ein Problem wurde bisher aber kaum thematisiert: Was lösen diese Berichte in den Betroffenen aus? Die Übergriffe, der Missbrauch traumatisieren Kinder und Jugendliche schwer – und lassen sie meist ein Leben lang nicht mehr los.

Wir sind nicht allein

Eine, die darüber offen spricht, ist Sarah W. Sie wurde ab dem zweiten Lebensjahr 20 Jahre lang in Kinderschänder-Ringen systematisch sexuell missbraucht und misshandelt, mit dem Wissen ihrer Eltern. Seit einem psychischen Zusammenbruch vor zehn Jahren ist sie in Therapie. Stück für Stück arbeitet sie die Traumata auf, die Missbrauch und sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend verursacht haben. Dem STANDARD erzählt sie ihre Geschichte anonym, um sich und ihre jetzige Familie zu schützen. Ihr Name ist der Redaktion bekannt, auch psychologische Gutachten liegen vor. Sarah W. erzählt von sich, um anderen Betroffenen zu zeigen: Sie sind nicht allein. Denn nur wenn man darüber spricht, kann Bewusstsein dafür entstehen, wie dramatisch sich sexuelle Übergriffe auswirken können: "Egal, ob man einmal einen sexuellen Übergriff erlebt hat oder jahrelang missbraucht wurde, die Welt ist danach nie wieder so wie vorher. Ein Übergriff reicht aus, dass ein Kind womöglich nie wieder glücklich wird."

Hat sie der Fall Florian Teichtmeister getriggert? Natürlich. "Weil an mir und mit mir genau solche Gewaltfantasien ausgelebt wurden, ich war diesem Sadismus ausgesetzt. Es fängt ja immer mit Fantasien an, die etwa als Fotos gesammelt werden. Und irgendwann realisiert ein Täter diese Fantasien womöglich." Dass das im Fall Teichtmeister nicht passiert ist, findet sie mäßig relevant. "Irgendwo kommen diese 58.000 Dateien her, jemand versorgt ihn damit, hat dafür Kinder missbraucht. Das ist ein Markt, auf dem man alles bekommt, wenn man dafür bezahlt."

"Es ist egal, ob ein Kind einmal missbraucht wurde oder jahrelang: Ein Übergriff kann ausreichen, dass es womöglich nie wieder glücklich wird." Sarah W., Missbrauchsbetroffene

Mittlerweile kann sie damit umgehen, wenn etwa Artikel über die Verhaftung eines Täters in den Medien landen. "Wenn die Täter gefasst werden und darüber berichtet wird, macht mir das nichts aus. Da bin ich in erster Linie enttäuscht, dass die Strafen nicht höher sind. Was mir wirklich unter die Haut geht, sind Berichte über Kindesmisshandlung. Ich kenne ja das Gefühl, das diese Kinder haben." Und auch Nachrichten über Kinder, die nicht mehr auftauchen, erträgt sie schwer. "Das macht mich fertig. Ich weiß, was diese Kinder womöglich erleben."

Sarah ist schon weit mit ihrem Aufarbeitungsprozess, sie erzählt offen von ihren Missbrauchs- und Vergewaltigungserfahrungen. Das war nicht immer so. Als sie begann, ihre Traumata aufzuarbeiten, hat sie sich parallel zu ihrer Arbeit mit einem Therapeuten selbst zusätzlich einer Art Schocktherapie unterzogen: "Ich hab mir alles über Jeffrey Epstein reingezogen, auf Netflix alle Serien und Dokus angeschaut, die es über sexuellen Missbrauch an Kindern gab. Das hat mir gezeigt, ich bin nicht allein, ich bilde mir das nicht ein. Alles, was ich erlebt habe, war wirklich so."

Durch diese intensive Auseinandersetzung haben sich enormer innerer Druck und Anspannung aufgebaut. Gleichzeitig konnte sich Sarah selbst nicht richtig spüren – ein Muster, das viele Betroffene von Übergriffen und Missbrauch entwickeln. Um weiter zu funktionieren – "ich habe ja Familie, ich kann nicht als psychisches Wrack auf dem Sofa liegen" –, hat sie sich richtig schlecht behandelt: "Ich habe so viel Sport getrieben, dass der Kardiologe warnte, mein Herzmuskel werde zu dick. Zuerst bin ich zig Kilometer mit dem Rad gefahren, dann bin ich auf dem Ergometer gesessen und war auch noch zwölf Kilometer mit dem Hund unterwegs. Jeden Tag. Das habe ich zum Ausgleich gebraucht."

Nie einfach entspannt leben

Eine wichtige Erkenntnis für Sarah war: "Ich kann nichts dafür. Ich habe das nicht freiwillig getan, ich wurde dazu gezwungen." Ihre Peiniger machten ihr von Anfang an klar: "Wenn du jemandem erzählst, was da passiert, wirst du sterben." Sarah: "Ich hab mich vor mir selbst geekelt, ich hab mich gehasst für das, was da passiert ist. Ich dachte auch, wenn ich das jemals jemandem erzähle, dann wird mich diese Person verachten." In der Therapie hat sie schließlich darüber gesprochen. Sie hat gelernt, dass sich Menschen nicht abwenden. "Aber es hat lange gedauert, bis ich es geschafft habe, mir selbst zu verzeihen."

Heute ist Sarah in der Lage, mit ihren Erlebnissen umzugehen. "Trotzdem werde ich nie ein unbeschwertes und leichtes Leben haben. Ich schaffe es, eine Zeitlang zufrieden und glücklich, ausgelassen zu sein. Aber da ist immer der Druck, die innere und äußere Stabilität zu halten." Eine Sache treibt sie in diesem Prozess an: "Ich möchte verhindern, dass Kindern die Seele gebrochen wird." Dafür nimmt sie alle in die Pflicht: "Wenn du merkst, einem Kind geht es nicht gut, es vernachlässigt sich womöglich selbst, dann schau nicht weg. Als ich zwölf oder 13 war, hab ich aufgehört, mich zu waschen oder meine Zähne zu putzen. Weil ich dachte, irgendwem muss das ja auffallen, dann fragt man mich, was los ist. Aber mich hat niemand gefragt."

Wie hat Sarah das selbst alles ausgehalten? "Ich habe mir Märchen zum Vorbild genommen, zum Beispiel das hässliche Entlein. Ich war dieses schwarze, hässliche Ding, mich hat keiner gemocht. Aber ich wusste, irgendwann werde ich schön sein. Das hört sich total lächerlich an, aber als Kind kannst du dich da reinträumen. Ich habe daran geglaubt. Irgendwann bin ich raus, frei und unabhängig. Und dann schaut man auf mich und sagt: Wow!"

Phönix aus der Asche

Wichtig ist ihr zu vermitteln, dass sie nicht mit ihrem Schicksal hadert. "Ich bin ja ein guter Mensch geworden, bin rücksichtsvoll und respektvoll zu allen. Ich kann nicht ändern, was mir passiert ist, aber für mich ist wichtig, dass ich gut bin zu anderen Menschen." Deshalb sind ihre Missbrauchserfahrungen für sie auch kein Tabu mehr. Ihre eigene Familie weiß es – zu ihrer Ursprungsfamilie hat sie keinen Kontakt –, ebenso Freunde und einige Bekannte. Alle gehen offen damit um. "Auch meine Kinder wissen, was passiert ist, ich hab die Informationen Stück für Stück geteilt. Wir reden darüber, darum ist es auch keine Belastung. Sie sehen ja, dass ich damit zurechtkomme." Und sie respektieren auch, wenn es ihr einmal nicht so gut geht. "Es gibt schwarze Tage, das wissen auch meine Kinder. Aber ich glaube, jeder Mensch hat solche Momente." Den dunklen Stunden gibt sie den Platz, den sie brauchen. Aber: "Schlechte Laune habe ich selten. Das Leben ist für mich viel zu kostbar. Meine Erlebnisse sollen kein Tabuthema sein. Dann schmerzen sie zumindest mich nicht so. Denn mit Offenheit stößt man auch auf Verständnis."


Als Opfer sieht sich Sarah nicht, sie verhalte sich auch nicht so, sagt sie. Das würde sie schwach machen. "Ich habe nie den Eindruck erweckt, hilflos zu sein, ich hatte immer etwas Kämpferisches. Ich sehe mich als Phönix aus der Asche, und so werde ich auch behandelt. Das ist ein großer Unterschied."

All das zu berichten war nicht leicht für sie. Gleichzeitig habe es ihr auch gutgetan, sagt Sarah. "Mich hat das Gespräch auch entspannt. Seit ich das alles erzählt habe, ist in mir das Gefühl: Jetzt ist es raus, jetzt kann mir nichts mehr passieren. Das tut gut." Und ihr ist wichtig: "Das ist mein Umgang mit meinen Erlebnissen. Ich möchte niemandem erklären, wie eine Auseinandersetzung funktionieren kann oder was man dafür tun muss. Aber wenn meine Geschichte irgendwem helfen kann, ist schon viel gewonnen." (Pia Kruckenhauser, 5.2.2023)