Die Körper der Verstorbenen wurden zur Bestattung nach Sizilien gebracht.

Foto: EPA/Concetta Rizzo

Was genau auf dem sechs Meter langen Boot passiert ist und wie es zur Havarie und dann zur Tragödie kam, war gestern noch Gegenstand von Untersuchungen. Aber auf dem völlig überladenen Schiff, das am vergangenen Samstag im tunesischen Sfax mit mindestens 52 Flüchtlingen an Bord in See gestochen war, muss es zu erschütternden Szenen gekommen sein.

Laut den Berichten der Überlebenden hat eine Mutter ihr lebloses Baby in ihrer Verzweiflung ins Meer geworfen; ein Mann, der das Kleinkind wieder an Bord holen wollte, wurde von den Wellen verschluckt. Wenige Stunden später ist die Mutter ebenfalls gestorben. Als die italienische Küstenwache das Flüchtlingsboot zwischen Malta und Lampedusa endlich entdeckte und zu Hilfe eilte, waren insgesamt acht Migranten – fünf Männer und drei Frauen – tot. Sie sind während der tagelangen Irrfahrt über das Mittelmeer offenbar erfroren oder verdurstet.

Überlebende in Erstaufnahmezentrum

Die 42 überlebenden Afrikaner waren laut Angaben der Küstenwache allesamt durchnässt und unterkühlt. Sie wurden auf die kleine Insel Lampedusa und dort in das chronisch überlastete Erstaufnahmezentrum gebracht. Die acht Toten wiederum wurden in den Aufbahrungsraum neben dem Friedhof der Touristeninsel überführt. Auch dort herrscht akuter Platzmangel: Inzwischen befinden sich dort, teilweise übereinander geschichtet, die Leichen von zwölf Migranten. "Der Raum ist viel zu klein und außerdem nicht gekühlt. Es herrscht ein grauenvoller Gestank, einige der Leichen befinden sich im Zustand der Verwesung. Aber das scheint niemanden zu interessieren", erklärte der Dorfpfarrer Don Carmelo Rizzo italienischen Medien.

Vier Tote, darunter ein Kind, können heute per Schiff nach Sizilien gebracht und dort bestattet werden. Der Bürgermeister von Lampedusa und der Nachbarinsel Linosa, Filippo Mannino, hat nach langem Herumtelefonieren in der Provinz Agrigent zwei Friedhöfe gefunden, auf denen noch kurzfristig Platz war. Mannino ist in der Nacht auf Freitag auch an der Hafenmole gestanden, um die 42 Überlebenden und die acht Toten in Empfang zu nehmen. Das tut er immer, wenn gerettete Flüchtlinge in Lampedusa an Land gebracht werden. Von den Behörden in Rom fühlt er sich im Stich gelassen. "Ich richte einen Appell an Ministerpräsidentin Giorgia Meloni: Die Regierung darf uns mit diesen unmenschlichen Tragödien nicht alleinlassen. Wir schaffen es nicht mehr, diesen Notstand zu bewältigen", erklärte Mannino.

Rechte Regierung will "illegale Einwanderung" reduzieren

Die Rechtsregierung aus den postfaschistischen Fratelli d'Italia Melonis, der Lega von Matteo Salvini und der Forza Italia von Silvio Berlusconi versucht indessen, das Thema Migration so klein wie möglich zu halten. Mit gutem Grund: Die Koalition hatte im Wahlkampf versprochen, die illegale Einwanderung drastisch zu reduzieren, notfalls mit Seeblockaden.

Statt einer Verringerung der Flüchtlingszahlen erlebt Italien in den ersten Wochen des neuen Jahres aber genau das Gegenteil: Seit Anfang Jänner sind bereits über 5.000 Migranten angekommen. Das sind 60 Prozent mehr als im Vorjahresmonat und nur einige Dutzend weniger als im Rekordjahr 2016, als in Italien insgesamt 180.000 Bootsflüchtlinge landeten.

Die von der Regierung medienwirksam beschlossenen Schikanen für private Rettungsschiffe haben sich als Schlag ins Wasser erwiesen: Von den Hilfsorganisationen wurden im Jänner 527 Migranten gerettet, was etwa zehn Prozent der angekommenen Migranten entspricht. Die übrigen 90 Prozent schafften die Überfahrt ohne Hilfe, oder sie wurden von der Küstenwache gerettet und an Land gebracht. Mit anderen Worten: Selbst wenn die NGOs ihre Rettungsaktionen ganz einstellen würden – was letztlich der Zweck der Schikanen ist –, würde dies am massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen wenig ändern. (Dominik Straub aus Rom, 3.2.2023)