Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zwischen EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Freitag in Kiew.

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Zum offiziellen Start des EU-Ukraine-Gipfels Freitagfrüh in Kiew mussten die aus dem winterlich-gemütlichen Brüssel angereisten EU-Delegationen aus Kommissaren und Ratsvertretern gleich einmal den Realitätscheck absolvieren: Es gab Fliegeralarm – Warnung vor Raketeneinschlägen.

Für die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt wie in weiten Teilen des Landes ist es inzwischen normal, sich bei der Warnung vor Raketeneinschlägen in die Bunker oder U-Bahn-Stationen zu begeben. Für Diplomaten und Experten, die gewohnt sind, ihre Maßnahmen und politischen Strategien im friedlichen Teil Europas zu gestalten, ist das aber eine ungewöhnliche, oft einmalige Erfahrung.

Nach Angaben der ukrainischen Führung wurde Alarm ausgelöst, weil russische Kampfflugzeuge in Belarus im Norden aufgestiegen seien, nur kurz nachdem der Ständige EU-Ratspräsident Charles Michel eingetroffen war.

Ankunft am Donnerstag

Er und Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die mit 15 weiteren EU-Kommissaren bereits tags zuvor mit dem Zug zu einem Arbeitstreffen mit der ukrainischen Regierung angereist war, sollten sich mit Präsident Wolodymyr Selenskyj unter sechs Augen treffen. Dann war auch eine Arbeitssitzung der Delegationen beim offiziellen EU-Ukraine-Gipfel angesetzt, dem ersten seit Herbst 2021, bevor Russland das Land angriff.

Details der Abläufe blieben aus Sicherheitsgründen geheim. Zum Abschluss wurde eine gemeinsame Pressekonferenz der drei Präsidenten auf Video aufgezeichnet und später verbreitet. Allein diese dramatischen Umstände zeigten schon den historischen Charakter des Gipfels. Selenskyj drängte auf einen raschen EU-Beitritt seines Landes bis zum Jahr 2025. Die Gäste aber können ihm diesen Wunsch weder erfüllen noch Versprechungen dazu machen. Es gebe keinen festen Zeitplan, sagte von der Leyen, aber verschiedene Ziele zu erfüllen.

Wie alle EU-Beitrittskandidaten wird auch die Ukraine zuerst alle Bedingungen gemäß den Kopenhagener Kriterien erfüllen müssen: politische und wirtschaftliche Reife und die Fähigkeit, den EU-Rechtsbestand umzusetzen. Für ein Land im Kriegszustand völlig illusorisch.

Fortschritte bei der Rechtsstaatlichkeit

Aber: In einer gemeinsamen Erklärung wird betont, dass die Ukraine bereits Fortschritte bei der Rechtsstaatlichkeit gemacht habe. Ratschef Michel betonte zudem über die Ukraine: "Ihr Schicksal ist unser Schicksal." Die EU werde den Druck auf Russland erhöhen, damit das Land den Krieg beende, versicherte Michel. Und man will die Ukraine auf ihrem Weg in die Union begleiten. Ähnlich hatte sich von der Leyen schon am Donnerstag geäußert. Sie betrachtet das Land bereits jetzt als "Teil der Familie".

Das sind nicht nur bloße Worte. Denn der Kandidat erhält in Teilen auch schon offenen Zugang zum Binnenmarkt und in den EU-Rechtsraum. Um die Finanzlage in Kiew zu verbessern, bekommen ukrainische Produkte privilegierten Zugang zum Markt. Ukrainische Flüchtlinge erhielten und erhalten vollen Zugang zu den Arbeitsmärkten, als wären sie EU- oder EWR-Bürger. In Österreich gilt das ab April.

Umgekehrt stockt die Kommission mit den Mitgliedsstaaten die gemeinsame Hilfe im Monatstakt beträchtlich auf. Die Kommissionspräsidentin brachte am Freitag 150 Millionen Euro für den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur mit. 2400 Notstromaggregate werden geliefert. Es gibt weitere 500 Millionen Euro für militärische Hilfe, für Waffen und Ausbildung ukrainischer Soldaten in EU-Staaten. "Die EU wird die Ukraine und die Bevölkerung gegen die russische Aggression so lange unterstützen, wie es nötig ist", sagte von der Leyen, "mit allen Mitteln." Ein zehntes EU-Sanktionspaket ist in Vorbereitung.

Unterstützung kam am Freitag auch speziell aus Deutschland: Berlin erteilte eine Exportgenehmigung für Kampfpanzer des Typs Leopard 1 in die Ukraine. Der Süddeutschen Zeitung zufolge gibt es bisher allerdings Probleme bei der Beschaffung von Munition. (Thomas Mayer, 3.2.2023)