Starker Auftritt: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

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Ein Jahr nach Beginn des zweiten militärischen Großangriffs Russlands auf die Ukraine seit der Annexion der Krim 2014 lässt sich nicht abschätzen, wann und wie dieser Krieg enden wird.

Variante 1: Es kann sein, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer am Ende doch gewinnen. Ihre Entschlossenheit zur Verteidigung ihrer Freiheit ist bewundernswert. Von 40 Millionen Einwohnern sind zehntausende gestorben – als Soldaten im Kampf oder als Zivilistinnen und Zivilisten, die auf kriegsverbrecherische Weise getötet wurden. 14,5 Millionen mussten fliehen, acht Millionen von ihnen in ein EU-Land.

Variante 2: Es kann aber auch sein, dass der zur äußersten Brutalität entschlossene Präsident Wladimir Putin dieses riesige, agrarisch bedeutende Land erobert, unterwirft und Russland einverleibt. Noch mehr Menschen würden flüchten.

Letzteres würde für die 27 EU-Staaten erhöhte akute Bedrohung bedeuten. Mindestens die drei baltischen Staaten, vielleicht sogar Teile Polens – und Moldawien – wären nach Putins großrussischer Logik als Nächstes dran. Ein Szenario, das man sich seit der Neuordnung mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 nicht vorstellen konnte. Wie damals ist es Weltgeschichte, die wir live erleben, mit ungewissem Ausgang.

Gemeinsame Zukunft

Vor diesem Hintergrund ist das in Kiew abgehaltene Gipfeltreffen zwischen EU und Ukraine zu beurteilen. Dort hat die Union im Namen aller 27 Mitgliedsstaaten Geschichte geschrieben, indem sie politisch aktiv ins Geschehen eingriff – friedlich, aber bestimmt. Allein die Tatsache, dass die höchsten EU-Vertreter in ein Kriegsgebiet reisen, um mit der ukrainischen Regierung über gemeinsame Zukunft und Wiederaufbau zu beraten, schafft für den Rest der Welt Klarheit.

Das Signal lautet: "Wir sind da, stehen auf der Seite von Völkerrecht und Demokratie, gegen das Faustrecht von Diktatoren. Die Ukraine gehört zu uns, auch schon vor dem angestrebten EU-Beitritt!" Bilder dieses starken Auftritts sagen mehr als noch so viele Seiten an Dokumenten über Hilfsleistungen.

Sie rücken das Zaudern in Deutschland, das Taktieren von Frankreich, die militärische Scharfmacherei in Polen in ein anderes Licht. Das gemeinsame Europa ist stärker als einzelne Mitgliedsstaaten, wenn es um die Verteidigung unseres Lebensmodells geht. Das größte Verdienst bei dieser Aktion kommt Präsidentin Ursula von der Leyen zu. Sie ist es, die dieses Vorgehen resolut vorantreibt, schon seit Monaten. (Thomas Mayer, 3.2.2023)