Ein bisschen sei es, als würde man einem Süchtigen ein Rauschgift vor die Nase legen und ihm sagen: "Das darfst du nicht nehmen", sagt der Psychologe Alexis Konstantin Zajetz. Den Vergleich bemüht er, als er über die Wintersportlerinnen und Skitourengeher spricht, die vor unverspurten Hängen stehen. Und die dieser Tage – trotz eindringlicher Warnungen und einer hohen Lawinenwarnstufe – ihre Schwünge in dem frischen Pulverschnee ziehen. In dieser Situation springe das sogenannte Belohnungszentrum im Hirn an, erklärt Zajetz. Eine kleine Region im Gehirn, dessen Aktivität uns ein derartiges Wohlgefühl bereitet, dass wir auch leichtsinnige Entscheidungen treffen, um den berühmten "Kick" zu verspüren.

Zudem habe der Schnee besonders im heurigen Winter lange auf sich warten lassen, da sei die Verlockung umso größer. Eine solche "seltene Gelegenheit" verleite zu "unvernünftigen Entscheidungen", dies sei auch wissenschaftlich belegt. Die großen Schneemengen in Kombination mit starkem Wind und Sonnenschein führen im Westen Österreichs derzeit zu einer gefährlichen Gemengelage. Allen Warnungen zum Trotz begaben sich am vergangenen Wochenende bei Lawinenwarnstufe 4 zahlreiche Menschen ins freie Gelände. Acht Menschen verloren ihr Leben. Allein am Samstag gingen in der Tiroler Leitstelle 30 Lawinenmeldungen ein, davon elf mit (vermuteter) Personenbeteiligung. Auch am Sonntag wurden zahlreiche neue Einsätze in Tirol und Vorarlberg gemeldet.

Am ersten Februarwochenende kamen acht Personen in Lawinen ums Leben.
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Oftmals wird nicht falsch, sondern gar nicht entschieden

Sind wir überhaupt imstande, im Gelände rationale Entscheidungen zu treffen? "Es gibt viele unbewusste Faktoren, die uns bei der Entscheidungsfindung beeinflussen", antwortet Zajetz im Gespräch mit dem STANDARD. Das größte Problem seien allerdings nicht die Fehlentscheidungen, sondern, dass es oftmals zu gar keiner bewussten Entscheidung komme. Größere Gruppen träfen tendenziell riskantere Entscheidungen.

"Irgendwann fährt der Erste einfach los", beschreibt Zajets, der beim Österreichischen Alpenverein (ÖAV) dem Lehrteam "Gruppen leiten" angehört. In solchen Situationen spiele dann auch die "soziale Akzeptanz" eine wichtige Rolle. "Wir sind lieber ein angepasstes Mitglied der Gruppe als die Person, die die Entscheidung trifft, oder der Miesepeter, der den anderen den Hang versaut." Zajetz rät, bestimmte Wegpunkte festzulegen, an denen Einschätzungen verglichen werden.

Alpenverein arbeitet an "Mentalcheck" für Gruppen

Um bewusste Entscheidungen in Anbetracht unbewusster Gruppendynamiken zu erleichtern, werde im Schoße des ÖAV gerade an einem "Mentalcheck" gearbeitet, verrät Zajetz. Dabei sollen wesentliche "Entscheidungsfallen" benannt werden und eine Art Leitfaden entstehen. Das Ganze soll dann ähnlich funktionieren wie die sogenannte "Stop or Go"-Methode, die der ÖAV lehrt.

Diese Methode ist gewissermaßen eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für das Treffen guter Entscheidungen im freien Skiraum. Generell gilt: Je höher die Lawinenwarnstufe, desto weniger steil darf das Gelände sein. Bei Lawinenwarnstufe 2 sollte man deshalb nur auf Hängen mit einer Neigung von maximal 40 Grad unterwegs sein, sich bei Stufe 3 unter 35 Grad aufhalten und bei Stufe 4 gar im flacheren Gelände unter 30 Grad verweilen. Je höher die Lawinenwarnstufe, desto größer zudem der in Betracht gezogene Raum: Bei einem "Vierer" muss man demnach die gesamte Geländekammer im Auge behalten, bei einem "Zweier" den Bereich der Spur.

Regeln und Leitfäden wie die "Stop or Go"-Methode des Alpenvereins helfen beim Treffen von rationalen Entscheidungen im Gelände.
Foto: Barbara Gindel/APA

Gefährlicher Hausberg und die Illusion der (männlichen) Experten

Neben der seltenen Gelegenheit und dem Streben nach sozialer Akzeptanz in der Gruppe gebe es noch weitere Faktoren, die wissenschaftlich belegt sind, sagt Zajetz. So würden Gefahren etwa vor allem "am Hausberg" – also im wohl bekannten Gelände – unterschätzt. Sei eine Entscheidung einmal gefallen, so halte der Mensch außerdem häufig daran fest, auch wenn sich die Bedingungen ändern. Ferner tendieren jene, die sich für Expertinnen und Experten halten, eher zu riskantem Verhalten.

Vermutet werde auch, dass "gemischt geschlechtliche Gruppen" riskanter agieren als eine reine Männergruppe. Da spiele dann möglicherweise auch "unbewusstes Imponiergehabe" eine Rolle, vermutet Zajetz. "Gerade Männer" seien auch besonders versucht, sich der "Illusion des Experten" hinzugeben, sagt der Lawinenexperte des Alpenvereins, Michael Larcher, dem STANDARD. In der Wissenschaft spricht man von einem "Overconfidence-Effekt", wenn also die eigene Urteilskraft überschätzt und eigene Entscheidungen nicht hinterfragt werden.

In der vergangenen Saison, also im Zeitraum vom 1. November 2021 bis zum 3. April 2022, sind laut Zahlen des Österreichischen Kuratorium für Alpine Sicherheit (ÖKAS) 18 Menschen durch Lawinen ums Leben gekommen – 17 Männer und eine Frau. Im Zehnjahresmittel verunglücken in Österreich 21 Personen tödlich durch Lawinen.

Uns Menschen fehlt der Instinkt für Lawinen

"Die Evolution hat den Menschen auf die Lawinengefahr nicht vorbereitet", führt Larcher fort. "Steilheit und tiefe Abgründe machen uns zurecht Angst", mit Schnee und dem Lawinenrisiko setze sich der Mensch in seiner Freizeit aber erst seit rund zwei Generationen auseinander. Weil uns "ein Instinkt für Lawinen" fehle, "brauchen wir unseren Kopf und die Statistik", sagt Larcher.

Man müsse also "aufgrund bestimmter Muster ein Risikomanagement etablieren", das es den Menschen erlaube, fundierte Entscheidungen zu treffen. Regeln würden dem Verlangen nach dem "Kick der ersten Line" Einhalt gebieten, glaubt Larcher.

Menschen handeln auf der Suche nach dem Abenteuer oft nicht rational.
Foto: Bergrettung Salzburg/APA

"What you see is all there is"

"Die Gefahrenzeichen sind fast unsichtbar", nennt Larcher, der selbst staatlich geprüfter Berg- und Skiführer ist, einen weiteren Grund. "Ein und derselbe Steilhang schaut bei Lawinenwarnstufe 1, 2, 3 oder 4 fast ident aus". Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman prägte den Begriff "WYSIATI – What you see is all there is". Er beschrieb dabei die Tatsache, dass das menschliche Unterbewusstsein aus wenigen Informationen eine plausible Geschichte konstruiert und dem Bewusstsein präsentiert. Wir treffen also voreilige Schlussfolgerungen, indem wir eine beschränkte Datenbasis heranziehen. Im Lawinenkontext gehört nicht nur der Steilhang zu dieser beschränkten Datenbasis, sondern auch eine "suggerierte Sicherheit" durch die Notfallausrüstung die – so Larcher – oft als "Sicherheitsausrüstung" missverstanden wird.

Hinzu komme, dass Lawinen im Endeffekt "doch recht seltene Ereignisse" sind. Die wenigsten Skitourengeherinnen und Skitourengeher hätten einen Lawinenabgang beobachtet oder selbst erlebt. Ein intuitives Warnsystem lasse sich so schwer aufbauen. "Die positive Erfahrung ist der Normalfall", sagt Larcher. Der Lawinenexperte beleuchtet Jahr für Jahr im Rahmen des von tausenden Menschen besuchten und gestreamten ÖAV Lawinenupdates ausgewählte Lawinenereignisse aus dem letzten Winter. Larcher hilft dem Publikum dabei, den Blick für Gefahrenmuster zu schärfen und grundlegende Sicherheitsvorkehrungen zu verinnerlichen. Nach dem vergangenen Wochenende und den vielen Toten habe er sich schon gefragt, warum er das mache, räumt Larcher ein. Doch die Zweifel währten nur kurz. "Wir hören immer nur von Lawinen, nicht von all den Menschen, die sich – dank ihres Wissens – heute sicher im Gelände bewegen." (Maria Retter, 6.2.2023)