Der Hafen Iskenderun wurde durch das Erdbeben schwer beschädigt.

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Die südtürkische Provinz Hatay wurde besonders stark vom Erdbeben getroffen.

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Rettungskräfte horchen nach Lebenszeichen von Verschütteten.

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Rettungsmitarbeiter in Syrien vermuten, dass noch hunderte Familien unter den Trümmern begraben sind.

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Ankara/Istanbul/Damaskus – Die Opferzahl im Erdbebengebiet an der türkisch-syrischen Grenze steigt immer mehr – und nach wie vor werden viele Menschen unter den Trümmern vermutet. Insgesamt lag die Zahl der Toten Dienstagfrüh bei über 5.100. Bisherigen Informationen zufolge wurden in der Südtürkei und in Nordsyrien zudem mehr als 23.500 Menschen verletzt, als tausende Gebäude einstürzten.

In Provinz Kahramanmaras im südlichen Teil Anatoliens konnten zwei österreichische Staatsbürger nur noch tot geborgen werden. Nach Schätzungen des Pacific Disaster Centers, einer US-Organisation für Katastrophenhilfe, sind von den Erdbeben in der Türkei und Syrien insgesamt rund 23 Millionen Menschen betroffen.

Im Nachbarland Syrien starben laut bisherigen Angaben mindestens 1.712 Menschen, in der Türkei 3.549. Präsident Recep Tayyip Erdoğan rief einen dreimonatigen Notstand aus, zehn Städte wurden zur Katastrophenzone erklärt. Zahlreiche Länder sagten Unterstützung zu, aus Österreich machte sich eine Bundesheereinheit auf den Weg.

In der Nacht auf Montag hatte ein erstes Beben der Stärke 7,8 die Grenzregion erschüttert. Am frühen Montagnachmittag folgte dann eine weiteres Beben mit einer Stärke von 7,7. Nach Angaben des European Mediterranean Seismological Centre erschütterte Dienstagfrüh ein weiteres Erdbeben der Stärke 5,6 die Zentraltürkei.

Der Hafen Iskenderun wurde durch das Erdbeben schwer beschädigt, Schiffe müssen derzeit umgeleitet werden. Die dänische Reederei Moller Maersk erkärt, dass noch nicht abzusehen sei, wann dort wieder Schiffe be- und entladen werden können.

Schlechtes Wetter behindert Sucharbeiten

Nachbeben und das schlechte Wetter mit niedrigen Temperaturen und Regen behinderten zudem die Rettungsarbeiten und Hilfslieferungen. Hinzu kommen schlechte Internetverbindungen und beschädigte Straßen zwischen einigen der am stärksten betroffenen türkischen Städte, in denen Millionen von Menschen leben. In die drei am meisten betroffenen Provinzen Hatay, Kahramanmaras and Adiyaman dürften nur noch Rettungsfahrzeuge und Hilfstransporte fahren, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay.

In Syrien sind die Provinzen Aleppo, Latakia, Hama, Idlib und Tartus besonders stark betroffen. Retter in Syrien vermuten, dass noch immer hunderte Familien unter den Trümmern begraben sind. Die Suche über Nacht sei aufgrund von Sturm und fehlender Ausrüstung nur "sehr langsam" verlaufen, hieß es von den Weißhelmen, die in den von Rebellen gehaltenen Gebieten Syriens aktiv sind. In den Rebellengebieten im Nordwesten des Landes wurden den Einsatzkräften zufolge mindestens 790 Tote registriert.

VIDEO: Suche nach Verschütteten in Aleppo
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"Hatay ist dem Boden gleich"

Dienstagfrüh berichtete eine Augenzeugin, im südtürkischen Hatay sei der Strom ausgefallen. Hilfe werde dringend benötigt. Die Tankstellen hätten kein Benzin mehr, und es gebe kein Brot zu kaufen. Auch in der Nachbarprovinz Osmaniye sei der Strom ausgefallen, sagte eine Reporterin des Senders CNN Türk. Erst rund 30 Stunden nach dem ersten und schwersten Erdbeben in der Nacht auf Montag in der türkisch-syrischen Grenzregion beginne die Hilfe in der Provinz tröpfelnd einzutreffen, wie die Wienerin Mercan Falter am Dienstag der APA schilderte. Falter ist in großer Sorge um ihre Familie, die in der Provinz mit der Hauptstadt Antakya lebt.

"Hatay ist dem Boden gleich, Antakya ist dem Boden gleich, Iskender ist dem Boden gleich", so die Wienerin. Ein 14- oder 15-stöckiges Wohnhaus in der Provinz, in dem ihr Onkel, ihre Tante und ihr Cousin mit seiner Familie lebten, wurde durch die Erdstöße völlig zerstört.

Binnenflüchtlinge mussten frieren

In der südosttürkischen Metropole Diyarbakir verbrachten viele Menschen die Nacht draußen, in Schulen oder Moscheen. Die Menschen hatten Angst, in ihre Häuser zurückzukehren. Mehrere Nachbeben seien zu spüren gewesen, und es sei bitterkalt.

Die türkische Katastrophenbehörde Afad teilte mit, dass 13.740 Such- und Rettungskräfte eingesetzt und mehr als 41.000 Zelte, 100.000 Betten und 300.000 Decken in die Region geschickt worden seien. Die Zelte der Katastrophenschutzbehörde Afad seien nicht beheizt und reichten nicht aus. Über das Zentrum für Katastrophenhilfe der EU sind bereits 27 Such- und Rettungsteams mobilisiert worden. Wie der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic am Dienstagvormittag mitteilte, entspricht das insgesamt mehr als 1.150 Rettungskräften und 70 Hunden.

In Syrien haben die verheerenden Erdbeben nach UN-Angaben vor allem Menschen getroffen, die ohnehin schon schutzlos unter desaströsen Bedingungen lebten. Viele Binnenflüchtlinge, die vor der Katastrophe in baufälligen Unterkünften wohnten, mussten die Nacht bei Schnee und eisigen Temperaturen im Freien verbringen, wie eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sagte.

Eisige Temperaturen

Einige der betroffenen Gebiete seien zudem abgelegen und nur schwer erreichbar. Es gebe unter anderem nicht genügend Notunterkünfte, Decken und warme Kleidung für die Erdbebenopfer. In dem Bürgerkriegsland leben rund 6,8 Millionen Binnenvertriebene.

Im Katastrophengebiet herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt. Viele Menschen können nicht in ihre Häuser zurück, weil diese eingestürzt sind oder eine Rückkehr angesichts der zahlreichen Nachbeben zu gefährlich wäre.

Mehr als 13 Millionen Menschen in der Türkei sind nach Einschätzung der Regierung von der Erdbebenkatastrophe betroffen. "Dieses Erdbeben hat 13,5 Millionen unserer Bürger direkt betroffen", sagte Städteminister Murat Kurum am Dienstag. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ergebe eine Übersicht der betroffenen Gebiete in beiden Ländern, dass "potenziell 23 Millionen Menschen" den Folgen des Bebens ausgesetzt seien, darunter fünf Millionen ohnehin besonders verletzliche Menschen, so die hochrangige WHO-Vertreterin Adelheid Marschang in Genf.

Eine türkische Familie wärmt sich am Feuer. Wegen der Gefahr von Nachbeben halten sich die Menschen im Freien auf.
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IS-Kämpfer nach Beben aus Gefängnis geflohen

Syrien wandte sich an die UN-Mitgliedsstaaten, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere Hilfsorganisationen und bat sie darum, "die Bemühungen der syrischen Regierung zur Bewältigung des verheerenden Erdbebens zu unterstützen", wie es in einer Erklärung des syrischen Außenministeriums hieß. Der staatlichen Nachrichtenagentur Sana zufolge stürzten in zahlreichen Städten Gebäude ein. Rettungsteams versuchten in der Nacht und im Morgengrauen, Menschen aus den Trümmern zu ziehen. Präsident Bashar al-Assad rief sein Kabinett zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Videos zeigten Trümmerberge, unter anderem aus der Provinz Idlib, teils kollabierten ganze Häuserreihen.

Nach den Erdbeben sollen bei einer Gefängnismeuterei in Syrien 20 mutmaßliche Kämpfer der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) entkommen sein. Dies erfuhr die Nachrichtenagentur AFP am Montagabend aus dem Militärgefängnis von Rajo nahe der Grenze zur Türkei. "Nach dem Erdbeben, von dem auch Rajo betroffen war, haben die Gefangenen einen Aufstand gestartet und Teile des Gefängnisses unter ihre Kontrolle gebracht."

Rund 20 Insassen seien während der Meuterei geflohen, hieß es weiter. "Wir glauben, dass es sich um IS-Kämpfer handelt." In dem Militärgefängnis von Rajo werden etwa 2.000 Häftlinge festgehalten, rund 1.300 von ihnen sind mutmaßliche IS-Kämpfer. Zudem werden dort kurdische Kämpfer festgehalten.

Nato um Hilfe gebeten

Die Türkei bat ihre Nato-Partner unter anderem um drei für extreme Wetterbedingungen geeignete Feldkrankenhäuser und Personal dafür. Der türkische Vizepräsident, Fuat Oktay, teilte am späten Montagabend mit, dass etwa 8.000 Verschüttete aus den Trümmern gerettet worden seien. Es wurden demnach sogar mehr als 20 Stunden nach dem ersten Beben weiterhin Menschen lebend geborgen. Allerdings schwinden die Chancen mit jeder Minute.

Am Dienstag sollten 85 Soldatinnen und Soldaten der "Austrian Forces Disaster Relief Unit" (AFDRU) in die Türkei abreisen, um dort Verschüttete zu retten. Nach bereits erfolgter Freigabe durch die EU wird sich das Erkundungsteam von Linz-Hörsching auf den Weg machen, am Vormittag am Flughafen Wien-Schwechat weiteres Equipment verladen und am Nachmittag werden die verbliebenen Kräfte abfliegen.

Die zerstörte Landebahn in Hatay.

Rettungsmannschaft mit Spürhunden

Griechenland schickte trotz der Spannungen mit der Türkei am Montag eine Rettungsmannschaft mit Spürhunden ins Erdbebengebiet. Eine israelische Hilfsdelegation ist in der Türkei angekommen, um dort nach den schweren Erdbeben bei der Suche nach Verschütteten zu helfen. Hilfszusagen kamen etwa auch aus Großbritannien, Indien, Pakistan, Finnland, Schweden, Russland, der von Russland angegriffenen Ukraine sowie den USA.

EU löste Krisenreaktionsmechanismus aus

Als Reaktion auf die Erdbeben wird auf EU-Ebene noch enger zusammengearbeitet. Der Krisenreaktionsmechanismus (IPCR) der Staatengemeinschaft sei durch die schwedische EU-Ratspräsidentschaft ausgelöst worden, hieß es in einer Mitteilung vom Montagabend. Dadurch sollen etwa Informationen schneller ausgetauscht werden.

Auch Russland hat beiden Ländern Hilfe zugesagt. In den kommenden Stunden sollen Rettungskräfte vom russischen Zivilschutz nach Syrien geflogen werden, wie der Kreml am Montag mitteilte. Auch US-Präsident Joe Biden sagte Hilfe zu. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bot der Türkei Hilfe seines Landes an.

Die Türkei ist immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Dort grenzen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr. Im Jahr 1999 war die Türkei von einer der schwersten Naturkatastrophen in ihrer Geschichte getroffen worden: Ein Beben der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt Izmit kostete mehr als 17.000 Menschen das Leben. Für die größte türkische Stadt Istanbul erwarten Experten in naher Zukunft ebenfalls ein starkes Beben. (APA, red, 7.2.2023)