Im Gastblog beschreibt Sozialwissenschafter Manuel Schwaninger, warum Gerechtigkeitsfragen koordinierte Hilfsleistungen an Menschen in Not vor große Herausforderungen stellen.

Für viele Menschen ist es ein moralisches Gebot, anderen in Not zu helfen. In den Sozialwissenschaften wird diese Neigung auf soziale und psychologische Faktoren zurückgeführt. Entsprechendes Verhalten ist gerade in Kriegszeiten besonders wichtig. Kriege wie in Syrien oder der Ukraine sind nur zwei aktuelle Beispiele für Ereignisse, die zu extremen Leid für viele Menschen geführt haben und führen. Innerhalb von Gemeinschaften ‒ seien es Staaten oder Staatenbünde wie die Europäische Union ‒ gibt es viele Menschen, die bereit sind, betroffenen Personen zu helfen, indem sie ihnen etwa eine sichere Unterkunft zur Verfügung stellen oder sie finanziell unterstützen.

Selbst wenn Einigkeit darüber besteht, dass man helfen sollte, kann es Meinungsverschiedenheiten darüber geben, wie stark geholfen werden soll.
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Allerdings teilen diese Perspektive nicht alle Menschen. Selbst wenn Einigkeit darüber besteht, dass man helfen sollte, kann es Meinungsverschiedenheiten darüber geben, wie stark geholfen werden soll. So zeigt sich regelmäßig, wie schwierig es für Gemeinschaften ist, sich auf die Höhe von Unterstützung und eine entsprechende Verteilung der Kosten zu verständigen. Konflikte entstehen beispielsweise bei Fragen darüber, welche Länder geflüchtete Menschen aufnehmen oder ob beziehungsweise welche Sanktionen gegen Russland durchgesetzt werden sollen. Dies kann in weiterer Folge dazu führen, dass helfende Maßnahmen kurz- oder langfristig von Mitgliedern der Gemeinschaft blockiert werden.

Gerechtigkeit bei der Verteilung von Kosten

Doch wieso ist politische Einigkeit in diesen Fragen wichtig? Können nicht einfach jene Länder oder Menschen, die helfen wollen, betroffene Personen unterstützen, unabhängig davon, was andere tun? Tatsächlich zeigen wissenschaftliche Studien, dass Gerechtigkeit hier auf zwei unterschiedliche Weisen wirkt. Während es viele Menschen als moralisch unerlässlich erachten, Personen in Not zu helfen, ist es für dieselben Menschen ebenso wichtig, die Kosten der Hilfeleistungen gerecht zu verteilen. So zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger unterstützt, dass geflüchtete Menschen proportional zu den Möglichkeiten der europäischen Länder verteilt werden, selbst wenn dies zu Mehrkosten für das eigene Land führt.

Derartige Präferenzen findet man nicht nur in Meinungsumfragen, sondern auch in Verhaltensstudien. Ein Mittel der Sozialwissenschaften um Verhalten zu analysieren sind sogenannte Laborexperimente. In diesen Studien wird von den komplexen Zusammenhängen des Alltags abstrahiert, um grundlegende menschliche Verhaltensmuster zu untersuchen. In Verhandlungsspielen etwa müssen anonyme Teilnehmerinnen und Teilnehmer Geld unter sich aufteilen, welches entsprechend dem Verhandlungsergebnis an die Teilnehmenden ausgezahlt wird. Ergebnisse dieser Art von Studien zeigen, dass bereits zwei Personen, die über die Unterstützung einer dritten Person verhandeln, ihre Transfers häufig an die Person anpassen, die weniger helfen will. Werden die Kosten nicht gerecht verteilt, sind selbst uneigennützige Personen nicht bereit, Dritte zu unterstützen. Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Kosten beeinflusst das Verhalten der Teilnehmenden stärker als Ungerechtigkeit, die entsteht, wenn Dritte leer ausgehen. Dies kann gar so weit führen, dass bei Uneinigkeit unter den verhandelnden Parteien überhaupt nicht geholfen wird, obwohl einzelne eigentlich helfen wollen.

Eine Frage der Gerechtigkeit

In der Praxis kommt Gerechtigkeit in diesem Fall als zweischneidiges Schwert zur Geltung. Sie wirkt nicht nur zwischen den Personen, die Hilfe benötigen und denen, die helfen können, sondern wirkt auch unter den Personen, die helfen können. Erschwerend kommt hinzu, dass eine gerechte Aufteilung von Kosten unter den verhandelnden Parteien nicht immer offensichtlich ist, da diese abhängig von der eigenen Situation unterschiedlich gesehen werden kann. So wird in manchen Situationen eine egalitäre Verteilung, in anderen Fällen eine proportionale Verteilung der Kosten in Hinblick auf die jeweiligen Möglichkeiten als gerecht empfunden. Die Verhaltensstudien legen nahe, dass etwa verhandelnde Personen, die Ressourcen dringender für sich selbst benötigen, es als gerecht empfinden, weniger zu helfen als andere.

Insgesamt stellen diese vielschichtigen Gerechtigkeitsfragen koordinierte Hilfsleistungen an Menschen in Not vor große Herausforderungen. Zwischen fehlendem Interesse und Uneinigkeit über die gerechte Verteilung der Kosten können einzelne, eigeninteressierte Parteien die Hilfsbereitschaft von anderen Parteien unterminieren.

Verantwortung liegt bei mächtigen Akteurinnen und Akteuren

Bestimmte Forschungsergebnisse lassen jedoch auch Hoffnung aufkommen. Werden demokratische Einigungen erst einmal getroffen, erweisen sich jene Ergebnisse als besonders stabil, die Kosten und Profite möglichst gerecht unter den Verhandlungspartnerinnen und Verhandlungspartnern verteilen. Zudem erkennen viele Studienteilnehmende den erhöhten Bedarf an Ressourcen anderer an und akzeptieren in Folge, wenn ihr Gegenüber weniger Kosten trägt. Letztlich können nicht nur eigeninteressiertere Menschen hilfsbereitere beeinflussen, sondern auch umgekehrt. Insbesondere Personen in einer starken Verhandlungsposition nehmen diese Verantwortung vermehrt an und setzen ihre eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen konsequent durch. So können strukturell mächtige, hilfsbereite Personen in einfachen Verhandlungssituationen auch weniger hilfsbereite Personen dazu bewegen, Geld in die Hand zu nehmen und Dritten zu helfen. Für aktuell in Not befindliche Menschen ist also zu hoffen, dass einflussreiche Mitglieder in Ländern oder innerhalb der EU ihre Verantwortung gegenüber diesen wahrnehmen und sich nicht hinter eigennützigen Interessen anderer verstecken. (Manuel Schwaninger, 9.2.2023)