Joe Biden hat ziemlich genau eine halbe Stunde geredet, als es im Plenarsaal des amerikanischen Kapitols plötzlich unruhig wird. Eigentlich ist die jährliche Ansprache des Präsidenten zur "State of the Union" vor beiden Kammern des Kongresses ein ehrwürdiges Ritual, bei dem der Staatschef eine Regierungserklärung abgibt und sich das Parlament ein wenig selbst feiert. Doch plötzlich ruft jemand laut "Lügner!", und Kevin McCarthy, der frisch gewählte republikanische Parlamentschef, blickt ziemlich erschrocken drein.

Video: US-Präsident Biden hielt am Dienstagabend (Ortszeit) seine Rede zur Lage der Nation.
DER STANDARD

Der Präsident am Rednerpult aber scheint die Szene zu genießen. "Einige meiner republikanischen Freunde wollen die Wirtschaft als Geisel nehmen, es sei denn, ich stimme ihrer Wirtschaftspolitik zu", hat er seine Ausführungen zur Haushaltspolitik eingeleitet. Im Sommer droht den USA die Zahlungsunfähigkeit, wenn der Kongress bis dahin nicht die Schuldenobergrenze angehoben hat. Dazu aber seien einige Republikaner nur bereit, wenn drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben vorgenommen würden, hatte Biden kritisiert und damit den unziemlichen Aufruhr ausgelöst.

"Also sind wir uns einig, dass die Sozial- und die Krankenversicherung nicht zur Debatte stehen", dreht der Redner daraufhin den Spieß um und bringt damit weitere Zwischenrufer vom ultrarechten Flügel der Republikaner erst recht in Rage. Jeden Versuch, dort den Rotstift anzusetzen, werde er mit seinem Veto verhindern. Die Demokraten jubeln. "Lasst uns uns zusammensetzen und unsere jeweiligen Vorstellungen gemeinsam diskutieren", bindet Biden das Thema schließlich präsidial ab. Dem obersten Republikaner McCarthy bleibt nichts anderes übrig, als müde zu klatschen.

Positive Überraschung

Viel war vor dem Auftritt Bidens spekuliert worden: Wie würde der Mann, der als Versöhner angetreten war, damit klarkommen, dass die Mehrheit des Repräsentantenhauses nun von Republikanern gehalten wird, die keinerlei Interesse an einer überparteilichen Zusammenarbeit haben? Welche Schwerpunkte würde der Präsident für die zweite Hälfte seiner Amtszeit setzen? Vor allem aber: Welchen Eindruck würde der wenig begnadete Redner, der sich öfter verhaspelt, nuschelt und Wörter verwechselt, zur besten Fernsehzeit beim amerikanischen Publikum hinterlassen?

Am Ende der 75-minütigen Rede sind die meisten professionellen Beobachter positiv überrascht, und das hat nicht zuletzt mit dem Schlagabtausch zur Schuldengrenze und einigen weiteren verbalen Scharmützeln zu tun. "Biden hat vielleicht die beste Rede seiner Präsidentschaft gehalten", urteilt die renommierte Publizistin Susan Glasser: "Die Zwischenrufe der Republikaner haben ihm geholfen."

Buy American!

Tatsächlich präsentiert sich der 80-Jährige so, wie es sich seine Berater wohl erhofft haben: entschlossen und energisch. Beinahe zu laut und druckvoll trägt er eingangs die Erfolgsbilanz seiner ersten zwei Amtsjahre vor. Darin betont er insbesondere die Re-Industrialisierung des Landes und lässt keinen Zweifel daran, dass er es mit der "Buy American"-Politik ernst meint: Künftig, so kündigt er kurz nach der Abreise des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck und seines französischen Kollegen Bruno Le Maire offiziell an, müssten auch sämtliche Baumaterialien in der öffentlichen Infrastruktur aus den USA stammen.

Da können viele Republikaner nicht anders, als zumindest verhalten zu klatschen. Ohnehin lässt es Biden nicht an demonstrativen Aufforderungen zu gemeinsamen Initiativen fehlen. "Ich möchte nicht Ihre Reputation zerstören", hat er eingangs stichelnd den neuen Sprecher McCarthy begrüßt, "aber ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten." McCarthy, der beim Trump-Flügel seiner Fraktion ohnehin als nicht radikal genug gilt, scheint mäßig begeistert.

Es klingt nach Bewerbungsrede

Tatsächlich tendieren die Chancen für überparteiliche Gesetze mit den neuen Mehrheitsverhältnissen gen null. Das spiegelt sich auch in den Themen, die Biden auf seiner To-do-Liste anspricht. Von höheren Lehrergehältern über eine stärkere Besteuerung von Firmen und Vermögenden, ein Verbot von halbautomatischen Waffen, ein flächendeckendes Vorschulsystem und ein nationales Schwangerschaftsrecht bis zum Kampf gegen die Klimakrise stößt jedes Vorhaben auf den entschiedenen Widerstand der Republikaner.

So hört sich die lange Litanei sozialdemokratischer Projekte denn auch eher wie die Bewerbungsrede für eine erneute Kandidatur als wie ein konkretes Arbeitsprogramm für die nächsten zwei Jahre an. In den nächsten Wochen will Biden verkünden, ob er sich um eine zweite Amtszeit bewirbt. Sein wiederholter Ausruf: "Wir sind noch nicht fertig. Lasst uns den Job zu Ende bringen", könnte durchaus als Hinweis auf seine Ambitionen verstanden werden. Mit seinem kämpferischen Auftritt dürfte er Bedenken wegen seines Alters vorerst in den Hintergrund gedrängt haben.

Am stärksten aber wirkt der Präsident dann, wenn Empathie und leisere Töne gefragt sind. Auf den Rängen des Plenarsaals begrüßt er die Mutter und den Stiefvater des Afroamerikaners Tyre Nichols, der bei einer Verkehrskontrolle in Memphis von fünf Polizisten zu Tode geprügelt worden ist. "Es gibt keine Worte für den Verlust eines Kindes", sagt der Mann, der selbst eine Tochter und einen Sohn verloren hat, mit brechender Stimme: "Unvorstellbar, es durch die Hand des Gesetzes zu verlieren."

Wenig zur Spionage

Die Schwachpunkte seiner Regierung umschifft der Präsident derweil großzügig. Die Flüchtlingskrise an der Südgrenze wird nur gestreift, die Affäre um die verlegten geheimen Regierungsakten gar nicht angesprochen. Auch den chinesischen Spionageballon, den Biden nach Meinung der Opposition zu spät abschießen ließ, erwähnt er nur in einem Nebensatz. Überhaupt kommt die Außenpolitik praktisch nicht vor: Gerade einmal eine Minute nimmt sich der Präsident für die Versicherung, die USA würden der Ukraine "so lange wie nötig" zur Seite stehen.

Der Auftritt richtet sich an die amerikanischen Wähler, und die sind mit Außenpolitik kaum zu begeistern. "Wir stehen an einer Weggabelung", ruft Biden den Zuschauern am Ende zu: "Wir müssen die Nation sein, die wir in unseren besten Zeiten waren: optimistisch, hoffnungsvoll, zukunftsgewandt. Eine Nation, die das Licht statt der Dunkelheit wählt, Hoffnung statt Angst, Einheit statt Spaltung und Stabilität statt Chaos." Es ist ein leidenschaftlicher Appell, wie ihn Biden schon einmal bei seiner Amtseinführung ausgesprochen hat. Es fällt schwer, bei diesen Worten nicht an jenen Mann zu denken, der ihm im Weißen Haus voranging und im Wahlkampf 2024 möglicherweise erneut gegenübersteht: Donald Trump. (Karl Doemens aus Washington, 8.2.2023)