Man ist es von Joe Biden ja schon gewöhnt: Nicht eben der geborene Redner vom Format eines Barack Obama, braucht er erst einmal eine Zeitlang, um ins Thema zu finden; er verhaspelt sich manchmal, wirkt unkonzentriert. So war es anfangs auch bei seiner alljährlichen Rede zur Lage der Nation in der Nacht auf Mittwoch – der ersten nach dem Verlust der demokratischen Mehrheit im US-Kongress.

Ungewohnt aufgeweckt, ungewohnt kämpferisch: Joe Biden will es noch einmal wissen.
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Unwillkürlich mussten sich auch Wohlgesonnene denken: Ist das wirklich der Präsident, den die USA in dieser schwierigen Zeit brauchen? Und soll Joe Biden in zwei Jahren noch einmal antreten, wenn er dann immerhin schon 82 Jahre alt sein wird?

Joe Biden jedenfalls scheint fest an seine Mission im Weißen Haus zu glauben. Mehr als ein Mal spricht er davon, dass der "Job zu Ende gebracht" werden müsse. Und je länger er spricht, desto besser kommt er in Fahrt, wirkt aufgeweckter, sogar kämpferisch. Der Mann, der sein Amt vor zwei Jahren mit dem Versprechen angetreten hatte, als Versöhner wirken zu wollen, gibt sich plötzlich passagenweise polternd-zuspitzend.

Ausgerechnet aus dem ihm deklariert feindlich gegenüberstehenden Lager der extrem rechten Republikaner wird ihm an diesem Abend – freilich ungewollte – Hilfe zuteil: Auf Zwischenrufe, er sei ein "Lügner", pariert er ungewöhnlich schlagfertig. Punktesieg für Biden, der auch warnt, dass die USA – wieder einmal – an einer Weggabelung stünden.

Nein, das war keine Vorbereitung auf den Ruhestand, das war kein bilanzierendes Zusammenkehren. Joe Biden könnte an diesem Abend indirekt und auf elegante Weise seine Bewerbung für die Präsidentschaftswahl 2024 angekündigt haben. (Gianluca Wallisch, 8.2.2023)