Seit Wochen schon fordert Österreich gemeinsam mit anderen EU-Staaten mehr Schutz an den EU-Außengrenzen, dabei vor allem weitere Zäune an der bulgarisch-türkischen Grenze, um Migranten und Flüchtlinge aufzuhalten. Bei dem am Donnerstag beginnenden EU-Sondergipfel zum Thema Migration dürfte darüber diskutiert werden, Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) forderte schon im Vorfeld konkrete Vereinbarungen. Doch wie effizient sind Grenzbarrieren überhaupt? Im STANDARD-Interview vergleicht die renommierte Expertin Élisabeth Vallet sie mit bloßen Händen, die einen Wasserstrom aufhalten sollen.

Geht es nach der österreichischen Bundesregierung, soll der Zaun an der bulgarisch-türkischen Grenze bald ausgebaut werden.
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STANDARD: Wie effizient sind Grenzbarrieren, um Migranten und Flüchtlinge aufzuhalten?

Vallet: Wenn man eine Regierung fragt, die einen Zaun an einem Teil ihrer Grenze gebaut hat, wird sie erzählen, dass die Grenzübertritte in diesem Bereich über einen bestimmten Zeitraum zurückgegangen sind.

STANDARD: Und welche Antwort hat die Wissenschaft?

Vallet: Für die Wissenschaft ist ein Grenzzaun so, als würde man versuchen, einen Wasserstrom mit bloßen Händen zu stoppen: Das Wasser wird irgendwann durchkommen. Ein gutes Beispiel dazu sind gestohlene Autos in Israel, die laut Statistiken trotz Zäunen und Kontrollen ins Westjordanland gebracht werden konnten. Und Autos sind ja grundsätzlich schwerer zu transportieren und zu schmuggeln als Menschen. Aber jemand im Westjordanland bezahlt mehr dafür, also wird auch jemand einen Weg finden, es dorthin zu schaffen. Das Gleiche gilt für Menschen.

Ein Kollege hat sich in einer Studie die Situation in Ciudad Juárez an der US-mexikanischen Grenze angesehen. Als dort der Zaun errichtet wurde, sind einfach die Preise der Schlepper gestiegen. Und was auffällig war: Viele haben es dann über die legalen Einreisewege geschafft, mit gefälschten Dokumenten oder mit Bestechung. Es wird also immer irgendwo eine Schwäche geben, sei es ein Loch, seien es Menschen, die ihren Job nicht machen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind, dass bei Grenzbarrieren die Preise der Schlepper steigen und die Routen variieren. Kurzfristig kann man die Menschen vielleicht bremsen, aber wenn jemand bereit ist, seine Heimat und seine Familie zu verlassen, dann wird ihn auch ein Grenzzaun nicht aufhalten.

STANDARD: Wieso ist in den vergangenen Jahren dann trotzdem die Zahl der Grenzbarrieren weltweit gestiegen?

Vallet: Weil es einfach ist, weil es sichtbar ist. Eine Regierung gibt damit der Bevölkerung das Gefühl, sie hätte etwas getan. Es ist ein simples Marketing-Werkzeug für Politiker.

STANDARD: Wieso greifen Regierungen nun verstärkt darauf zurück?

Vallet: In einer globalisierten Welt möchte man glauben, dass Zusammenarbeit besser funktioniert, aber das ist oft leider nicht der Fall. Ansonsten könnte man durch Kooperationen die Wurzeln des Problems angehen, die mitunter tausende Kilometer entfernt sind. So weit entfernt fühlt man sich aber nicht so mächtig wie an der eigenen Grenze. Und ab und zu haben Regierungen auch das Gefühl, dass Grenzbarrieren überhaupt das Einzige sind, was sie tun können.

Außerdem ist es auch ein bisschen zu einem Trend geworden. Der hat schon nach 9/11 begonnen, und Donald Trump hat ihn befeuert, indem er seine Idee der Mauer so offensiv beworben hat. Wenn die USA das machen, wieso machen wir das nicht, werden sich viele Regierungen gefragt haben.

Laut Élisabeth Vallet ist auch Donald Trump mitverantwortlich, dass es mehr Grenzbarrieren auf der Welt gibt.
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STANDARD: Kann man sagen, dass vor allem konservative, rechte, populistische Politiker Grenzbarrieren bauen oder zumindest darüber nachdenken?

Vallet: Derzeit schon, und da wir in letzter Zeit einen Aufstieg der populistischen Rechten sehen, wächst auch die Zahl der Grenzzäune.

STANDARD: Die ökonomischen Auswirkungen von Grenzbarrieren sind ja enorm. Sie zu bauen ist teuer, sie zu verwalten ebenso. Und sie wirken sich auch negativ auf den Handel in den Grenzgebieten aus, oder?

Vallet: Absolut, ja. Die Wissenschaft hat die wirtschaftlichen Folgen von Grenzbarrieren auf die Grenzgebiete bereits belegt. Und ja, Mauern oder Zäune zu bauen und zu verwalten ist superteuer, zusätzlich braucht es ja auch Patrouillen, Kameraüberwachung und vieles mehr.

Als ich das letzte Mal an der US-mexikanischen Grenze war, hat mir der Grenzschutz erzählt, dass sie am oberen Ende der Mauer für acht Millionen US-Dollar Nato-Draht befestigt haben. Die Schlepper haben nur eine Woche gebraucht, um diesen Draht zu überwinden.

STANDARD: Grenzbarrieren sind also nicht sehr effizient, dafür sehr teuer. Was ist notwendig, um eine Welt mit weniger Zäunen und Mauern zu schaffen?

Vallet: Wir brauchen mehr internationale Zusammenarbeit auf höchstem Niveau. Und wir müssen uns daran erinnern, welche positiven Aspekte Einwanderung haben kann. Ich habe kürzlich wieder John F. Kennedys Buch "Eine Nation von Immigranten" gelesen, und wir haben offenbar komplett vergessen, wie man positiv über Einwanderer denken kann, dass dadurch etwa das BIP in den aufnehmenden Ländern steigt. Dann würde sich wohl auch das Narrativ auf nationaler Ebene verändern. Aber das alles ist natürlich einfach gesagt. (Kim Son Hoang, 9.2.2023)