Zwei Tage nach dem verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei und Syrien hat sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Mittwochmittag vor Ort ein Bild der Lage gemacht. Bei einem Auftritt im weitgehend zerstörten Kahramanmaraş, der Stadt, die am dichtesten am Epizentrum des Bebens liegt, versprach er den Betroffenen finanzielle Unterstützung und die Bereitstellung von Wohnraum.

Der türkische Präsident beim Lokalaugenschein in Kahramanmaraş.
Foto: AFP/ADEM ALTAN

Er räumte ein, dass es am Montag, dem ersten Tag nach dem Beben, große Schwierigkeiten gegeben habe, genügend Hilfskräfte ins Erdbebengebiet zu bringen.

Tatsächlich hatten an verschiedenen Orten schon Betroffene wegen der mangelnden Hilfe protestiert. Als am Dienstagabend im fast völlig zerstörten Adiyaman der staatliche Gouverneur der Provinz Malatya zu den Bürgern von Adiyaman sprechen wollte, wurde er ausgebuht und die Leute riefen: "Wo bleibt der Staat, warum hilft uns niemand?"

Auch im ebenfalls massiv zerstörten Hatay erreichten erst am Dienstagnachmittag Hilfstrupps der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad die Stadt. Immer wieder hatten betroffene Bewohner per Twitter da empört gefragt, wo denn der Staat nun bleibt, wenn er wirklich einmal gebraucht wird.

Seltsam emotionslos

Wohl auch wegen dieser Stimmung war Erdoğan dann am Mittwoch doch selbst ins Katastrophengebiet gereist – zunächst in eine Stadt, die als Hochburg seiner AKP gilt. Im Stadion von Kahramanmaraş hat Afad ein Zeltlager aufgebaut, in dem zu mindestens ein kleiner Teil der Betroffenen Unterschlupf finden konnte.

Erdoğan besichtigte das Zeltlager und hielt dann dort eine kurze Ansprache. Der Präsident wirkte dabei seltsam emotionslos. Wie ein Nachrichtensprecher verkündete er die aktuelle Anzahl der Todesopfer – zu diesem Zeitpunkt in der Türkei etwa 9.000 –, die Zahl der Verletzten – knapp 50.000 – und kündigte an, dass jede betroffene Familie als Soforthilfe 10.000 Lira (umgerechnet knapp 500 Euro) bekommen soll.

Außerdem verwies er darauf, dass seine Regierung die jetzt im Winter leerstehenden Hotels an der Mittelmeerküste, von Mersin bis Antalya, für obdachlose Erdbebenopfer frei machen will.

Der Präsident war von seinen engsten Beratern und Bodyguards umringt. Ein direkter Kontakt mit den verzweifelten Bewohnern von Kahramanmaraş wurde nicht zugelassen. Einen Gang durch das Trümmerfeld ersparte sich Erdoğan.

Wütende Opposition

Nach dem ersten Schock meldete sich am Mittwoch auch die Opposition zu Wort. Der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, beschwerte sich, dass wie schon bei der Versorgung der Bevölkerung während der Corona-Krise auch jetzt wieder CHP-Bürgermeister in betroffenen Städten wie in Hatay, von den staatlichen Gouverneuren offenbar auf Anweisung aus Ankara dabei behindert würden, selbst Hilfsmaßnahmen zu organisieren. Kılıçdaroğlu warf Erdoğan vor, in den 20 Jahren, in denen er das Land jetzt regiert, keine effektive Vorsorge gegen Erdbeben ergriffen zu haben, und fragte, was eigentlich mit den Geldern aus der seit dem Beben von 1999 obligatorischen Erdbebensteuer geschehen sei.

Nach offiziellen Angaben seien dort vier Milliarden Dollar angespart worden, während unabhängige Experten ausgerechnet haben, dass es eigentlich 35 Milliarden Dollar sein müssten. Korruption innerhalb der Regierung, so Kılıçdaroğlu, hätte wohl dazu geführt, dass das Geld versickert oder zweckentfremdet wurde.

Kılıçdaroğlu kritisierte auch eine mutmaßliche Twitter-Sperre: "Diese wahnsinnige Palastregierung hat die Kommunikation der sozialen Medien unterbrochen." Das Ergebnis sei, dass Hilferufe weniger gehört werden. Die Organisation Netblocks, die für die Beobachtung von Internetsperren bekannt ist, berichtete am Mittwoch über die Beschränkung von Twitter durch mehrere Internetanbieter in der Türkei. Von offizieller Seite gab es dafür zunächst keine Bestätigung.

Auch die kurdische HDP macht der Regierung schwere Vorwürfe. So soll die sowieso schleppend angelaufene Hilfe in den betroffenen, überwiegend kurdisch bewohnten Städten am allerwenigsten spürbar sein. In Diyarbakir, der größten kurdischen Stadt des Landes, komme so gut wie keine staatliche Hilfe an, beklagt die HDP.

Deshalb hat die Partei jetzt angekündigt, alle anderen Aktivitäten einzustellen und sich nur noch darauf zu konzentrieren, Hilfe ins Erdbebengebiet zu schicken. Tatsächlich konzentriert sich die staatliche Hilfe bisher vor allem auf die Region Gaziantep, Kahramanmaraş, Sanliurfa und Malatya, alles Hochburgen der AKP.

Hilfe aus mehr als 30 Ländern

Allerdings sind mittlerweile auch internationale Hilfstrupps aus mehr als 30 Ländern, darunter auch aus Österreich, mit Suchhunden und Spezialgerät in der Türkei eingetroffen. Die Hilfsorganisationen können auf noch intakte Flughäfen in der betroffenen Region eingeflogen werden und von dort aus schnell verteilt werden.

Insgesamt sind aber am Mittwoch die Chancen, noch Überlebende unter den Trümmern zu finden, nur noch gering. Zwei Tage und Nächte bei Minusgraden unter den eingestürzten Häusern haben wohl bloß wenige überlebt. Viele Angehörige berichten Reportern vor Ort, dass die Stimmen ihrer Lieben in den Trümmern mittlerweile verstummt seien. Meistens können nur noch Leichen aus den Schutthaufen geborgen werden. Entsprechend schnell wächst die Zahl der offiziellen Todesopfer. In der Südprovinz Adiyaman konnte ein sieben Monate altes Baby aus den Trümmern gerettet werden.

Während die Erdbebenhilfe für die türkischen Gebiete jetzt auch international im Fokus steht, bleibt die Situation in Syrien weiterhin unübersichtlich. Die Regierung von Diktator Bashar al-Assad hat jetzt offiziell nach Russland und dem Iran auch die EU um Hilfe gebeten und insbesondere eine Aufhebung der Sanktionen gefordert. Das erfährt breite Ablehnung in Europa: Das Assad-Regime würde nur versuchen, sich auf dem Rücken der Opfer Vorteile zu verschaffen. Hilfsgüter für Erdbebenopfer würden sowieso nicht unter die Sanktionen fallen.

Die Forderungen an Ankara und Damaskus mehren sich, grenzüberschreitende Hilfe zu ermöglichen. So rief die Uno Syriens Regierung dazu auf, Helfern Zugang zu den von Rebellen kontrollierten Erdbebengebieten im Nordwesten des Landes zu ermöglichen. "Lassen Sie die Politik beiseite und lassen Sie uns unserer humanitäre Arbeit tun", appellierte der Uno-Hilfskoordinator für Syrien, El-Mostafa Benlamlih, in einem Interview der Nachrichtenagentur AFP. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, red, APA, 8.2.2023)