2014 kandidierte Dan Shechtman bei der israelischen Präsidentschaftswahl in der Hoffnung, das Bildungssystem verbessern zu können. Dass er nicht gewählt wurde, bedauert er nicht, an seinen Bildungsanliegen hat sich aber nichts geändert.

Foto: Heribert Corn

Es war ein Zufallsfund, der dem israelischen Physiker Dan Shechtman erst Kritik und Spott einbrachte, dann aber die höchsten wissenschaftlichen Ehren. Auf der Suche nach neuen Werkstoffen erblickte er Anfang der 1980er-Jahre etwas unter dem Elektronenmikroskop, das es nach damaliger Lehrmeinung gar nicht hätte geben dürfen: eine aperiodische Kristallstruktur. Die Atome der Verbindung waren geordnet, die Anordnung wiederholte sich jedoch nicht, wie es die Definition von Kristallen zwingend voraussetzte.

Zunächst wurde Shechtmans Entdeckung von vielen für einen Fehler gehalten, doch bald wurden seine Ergebnisse bestätigt und weitere "Quasikristalle" gefunden. Shechtmans prominentester Kritiker, der US-amerikanische Chemiker und Zweifachnobelpreisträger Linus Pauling, ließ nicht locker und verunglimpfte Shechtman gar als "Quasiwissenschafter". Das änderte freilich nichts an dem bahnbrechenden Fund, für den Shechtman 2011 den Chemienobelpreis erhielt.

Heute will Shechtman jungen Forschenden Mut machen und engagiert sich für Wissenschaftsvermittlung in Kindergärten. Vergangene Woche war der Physiker, der auch Vorsitzender der Wolf Foundation ist, die den renommierten Wolf-Preis für Wissenschaft und Kunst vergibt, für die nachträgliche Auszeichnung der Komponistin Olga Neuwirth in Wien.

STANDARD: Sie haben früh in Ihrer Karriere eine fundamentale Entdeckung gemacht – und mussten gegen Widerstände von prominenter Seite ankämpfen. Wie haben Sie das erlebt?

Shechtman: Am Anfang war es schon ein bisschen seltsam. Ich hatte keine Angst, weil ich wusste, dass ich recht hatte. Aber es war merkwürdig, so ein wissenschaftliches Schwergewicht wie Pauling gegen mich zu haben, gegen mich persönlich! Er war ein großartiger Wissenschafter und der wichtigste Chemiker in den USA des 20. Jahrhunderts. Aber ich war ein Experte für Elektronenmikroskopie – und er nicht. Das war’s. Er verstand es einfach nicht.

STANDARD: Als Pauling 1994 starb, stand die Existenz von Quasikristallen in der Fachwelt außer Zweifel. Hat auch er seinen Irrtum eingesehen?

Shechtman: Nein. Wir sind uns zweimal persönlich begegnet und standen bis zuletzt in Korrespondenz, aber er wollte nicht einsehen, dass er unrecht hatte. Irgendwann tat er mir deswegen leid: Er schrieb einen Artikel nach dem anderen, um zu widerlegen, dass es quasiperiodische Materialien gibt, aber niemand wollte sie veröffentlichen. Seine Freunde sagten ihm, hör auf damit. Er machte sich lächerlich.

STANDARD: War Ihnen selbst von Anfang an bewusst, dass Sie da auf etwas Großes gestoßen waren?

Shechtman: Nein, zunächst nicht. Ich hatte nicht nach Quasikristallen gesucht, niemand hatte erwartet, dass es sie gibt. Es war eine reine Zufallsentdeckung. Aber nach und nach erwuchs ein blühendes Forschungsfeld daraus. Bis dahin hatte man die Kristallografie für eine ausgereifte Wissenschaft gehalten, in der es kaum Neues zu entdecken gibt – und plötzlich musste der Begriff Kristall neu definiert werden.

STANDARD: Es wird auch viel an Anwendungsmöglichkeiten für Quasikristalle geforscht, etwa für die Medizintechnik oder die Raumfahrt. Haben Sie eine Lieblingsanwendung?

Shechtman: Das ist das Spannende, sobald jemand ein neues Material entdeckt, untersuchen andere Leute sofort dessen Eigenschaften, und nach ein paar Monaten gibt es schon dutzende Fachartikel dazu. Eines der ersten Produkte, die in den Handel kamen, waren Bratpfannen mit quasikristallinen Antihaftbeschichtungen. Die sind viel besser als Teflon – ungiftig, sehr hitzebeständig und kaum zu zerkratzen.

STANDARD: Welchen Rat würden Sie jungen Menschen geben, die sich für eine Karriere in der Wissenschaft interessieren?

Shechtman: Zuerst muss man sich viel wissenschaftliches Grundwissen aneignen, quer durch die Fachgebiete. Aber darüber hinaus sollte man sich auch etwas aussuchen, das einem besonders gefällt, und versuchen, darin am besten zu sein. Nummer eins in der Klasse, in der Schule, wo auch immer. Du musst es mögen, dann kannst du es auch schaffen. Wichtig ist auch, sich selbst zu vertrauen und sich nie entmutigen zu lassen.

STANDARD: Für ein wissenschaftliches Selbstbewusstsein braucht es eine fundierte Bildung. Sie haben in Haifa ein Projekt initiiert, um Wissenschaft in Kindergärten zu lehren. Wie kam das?

Shechtman: Wenn man will, dass die Leute rational denken und nicht jeden Unsinn glauben, muss man sie so früh wie möglich mit Wissenschaft zusammenbringen. Am besten schon im Kindergarten. Das habe ich einmal in einem Radiointerview gesagt, fünf Minuten später rief mich der Bürgermeister von Haifa an und sagte: Komm, wir machen das. Also haben wir ein Programm zur Wissenschaftsvermittlung an Kleinkinder aufgebaut, an dem 60 Kindergärten teilnehmen. Außerdem haben wir inzwischen einen naturwissenschaftlichen Kindergarten in Haifa, da gibt es ein echtes Labor. Die Kinder machen dort Experimente mit einer Chemikerin, das ist fantastisch! Ich erzähle immer gern in aller Welt davon, weil ich hoffe, dass das kopiert wird. (David Rennert, 11.2.2023)