Heute werden weltweit täglich Millionen von Röntgenbildern angefertigt. Das dafür zuständige medizinische Spezialfach, die Radiologie, wurde in Österreich begründet.
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Es war, wie so oft in der Wissenschaft, eine Zufallsentdeckung. Am späten Abend des 8. November 1895 experimentierte Wilhelm Conrad Röntgen in seinem physikalischen Labor an der Uni Würzburg wieder einmal mit elektrischen Entladungen in Kathodenstrahlröhren, die einige Jahre zuvor entwickelt worden waren.

Der fast dunkle Raum wurde nur durch die mit bloßem Auge sichtbaren Leuchterscheinungen in der Röhre erhellt, die damals bereits bekannt waren. Doch als der deutsche Physiker die Röhre mit schwarzem Karton umhüllte, beobachtete er zufällig, dass sich ein Schirm, der mit Bariumplatincyanürpapier beschichtet war, erhellte. Die Strahlen durchdrangen also nicht nur das Glas, sondern auch den Pappkarton. Mehr noch: Als Röntgen seine Hand irgendwann später zwischen Röhre und Leuchtschirm hielt, sah er auf einem Schirm den Schatten seiner Handknochen.

Wilhelm Conrad Röntgen, der Entdecker der X-Strahlen, im Jahr 1900.
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So ungefähr soll es sich an jenem Abend zugetragen haben, der zu einer der folgenreicheren Entdeckungen der Wissenschaft führte und Röntgen, der am 10. Februar 1923 starb, nicht nur den ersten Nobelpreis für Physik im Jahr 1901 eintrug, sondern ewigen Ruhm. Die von ihm entdeckten Strahlen sind – zumindest im Deutschen – untrennbar mit seinem Namen verbunden, obwohl dem Physiker seine ursprüngliche Bezeichnung X-Strahlen (X für das Unbekannte) lieber war. Immerhin hielt man sich in der wichtigsten Wissenschaftssprache daran: Auf Englisch ist nach wie vor von X-rays die Rede.

Revolution in der Medizin

Diese sehr kurzwelligen, energiereichen elektromagnetischen Strahlen, die für das menschliche Auge nicht sichtbar sind, revolutionierten seitdem viele Bereiche der Wissenschaft und insbesondere der Medizin: Weltweit werden heute täglich Millionen von medizinischen Röntgenuntersuchungen durchgeführt. Röntgenstrahlen durchleuchten aber nicht nur den menschlichen Körper, sondern viele Materialien, die damit untersucht und auf Schäden kontrolliert werden können.

So werden sie auch zur Analyse von Kunstwerken eingesetzt, um zu ermitteln, was sich unter dem sichtbaren Bild verbirgt. In der Röngtenkristallografie haben die Strahlen die wesentliche Grundlage dafür geschaffen, die Struktur aller möglichen Moleküle – einschließlich der DNA – zu entschlüsseln. Mit Röntgenstrahlen lassen sich aber auch Viren entschlüsseln. Und in der Astrophysik helfen Röntgenteleskope, energiereiche kosmische Prozesse etwa bei Schwarzen Löchern besser zu verstehen.

Schwarze Löchern können eine besonders starke Röntgenstrahlung abgeben, die sich von Teleskopen detektieren lässt.
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Vorläufige Mitteilung aus Würzburg

Das sind nur einige der Anwendungen von Röntgens Entdeckung, über die der Physiker in einem elfseitigen Artikel berichtete, den er am 1. Jänner 1896 in Sonderdrucken unter dem Titel "Über eine neue Art von Strahlen von W.C. Röntgen (vorläufige Mitteilung)" an mehrere Kollegen im In- und Ausland schickte. Unter den Empfängern befand sich auch der Wiener Physiker Franz Serafin Exner, der gemeinsam mit Röntgen Assistent an den Unis in Zürich und Straßburg gewesen war.

Die erste Röntgenaufnahme zeigt die Hand von Röntgens Frau Bertha.
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Die Depesche an den Vorstand des II. physikalisch-chemischen Instituts der Universität Wien sollte die mit Abstand größte Wirkung entfalten. Tatsächlich eroberten die Röntgenstrahlen von Wien aus nicht nur die mediale Weltöffentlichkeit. In der damals boomenden Wissenschafts- und Medizinmetropole wurden früher als anderswo die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der neuen Strahlen erprobt und weiterentwickelt.

Exner, der aus einer der wichtigsten Wissenschafterfamilien Wiens stammte – sein Neffe Karl von Frisch sollte sogar den Nobelpreis gewinnen –, besprach Röntgens Entdeckung bereits am 4. Jänner 1896 mit einigen Kollegen in kleiner Runde. Darunter war auch der Physiker Ernst Lecher, der wiederum umgehend seinen Vater informierte, den renommierten Journalisten Zacharias Konrad Lecher. Der erkannte den Neuigkeitswert sofort, ließ seinen Sohn einen kurzen Text schreiben, der am 5. Jänner auf Seite eins der damals eher auflagenschwachen Tageszeitung "Die Presse" unter dem Titel "Eine sensationelle Entdeckung" erschien. ("Die Presse" stellte noch im gleichen Jahr ihr Erscheinen ein.)

Der erste Zeitungsbericht über die Entdeckung.

Wiener denken sofort weiter

Dieser eilig verfasste Bericht – aus Röntgen war Routgen geworden – wurde nach London telegrafiert und von dort aus am Abend des 6. Jänner etwas hastig in etliche andere Länder gesendet. Damit war die Entdeckung des deutschen Physiker von Wien aus in die Welt gelangt. Röntgen selbst sollte seinen Durchbruch erst am 23. Jänner in Würzburg offiziell bekanntgeben. Zu dem Zeitpunkt war man in Wien aber längst schon sehr viel weiter.

Hier wurde nämlich nicht nur die Tragweite der X-Strahlen von Exner und seinen Kollegen sofort richtig eingeschätzt, sondern auch ihr enormes medizinisches Potenzial. Das wiederum lag einerseits daran, dass in der Reichshauptstadt Ende des 19. Jahrhunderts ein reger interdisziplinärer Austausch zwischen Naturwissenschaftern und Medizinern herrschte, der auch räumlich mit Absicht befördert worden war: Entlang der Währinger Straße waren wenige Jahre zuvor die wichtigsten medizinischen, chemischen und physikalischen Institute in unmittelbarer Nähe zueinander errichtet worden. In einem Kaffeehaus in dieser Straße hielt nicht nur Exner seine wöchentlichen informellen Treffen ab.

Familiäre Verflechtungen

Andererseits gab es aber auch enge personelle und familiäre Verflechtungen. Im konkreten Fall erwies es sich als sehr günstig, dass einer von Franz Serafin Exners Brüdern ein bedeutender Physiologe war. Siegmund Exner machte am 10. und 17. Jänner in zwei Vorträgen in der Gesellschaft der Ärzte in Wien im heutigen Billrothhaus die Mediziner der Stadt mit der bahnbrechenden Entdeckung bekannt. Das Echo und die Folgen waren abermals enorm.

Die ersten in Wien publizierten Röntgenaufnahmen in der "Wiener klinischen Wochenschrift": links das erste Angiogramm, bei dem die Blutgefäße sichtbar gemacht werden.
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Wenige Tage später gelangen in Wien die ersten medizinisch bedeutsamen Röntgenaufnahmen: Das Bild mit verändertem Knochen des kleinen Fingers wurde am 23. Jänner ebenso in der "Wiener klinischen Wochenschrift" publiziert wie das weltweit erste Angiogramm, bei dem die Gefäße einer Leichenhand sichtbar gemacht wurden. Einen Tag später fand in Wien die erste Operation auf Basis einer Röntgenaufnahme statt, und im Februar 1896 veröffentlichten Wiener Mediziner unter Mithilfe des Physikers Ernst Mach bereits den ersten Atlas mit Röntgenaufnahmen.

Etliche weitere Weltpremieren

Mit allen möglichen Weltpremieren in Sachen X-Strahlen ging es in Österreich in den nächsten Jahren munter weiter: So war die erste neue Operationstechnik, die in ihrer Wirksamkeit mittels Röntgenstrahlen bestätigt werden konnte, eine neuartige Behandlung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung bei Kleinkindern. Erfunden hatte diese Technik der mehrfach für den Medizinnobelpreis nominierte Adolf Lorenz. Der Wiener Orthopäde war nicht nur der Vater von Konrad Lorenz, der den Nobelpreis tatsächlich erhielt, sondern auch der Schwager des erwähnten Physikers Ernst Lecher.

Die interdisziplinären Beispiele der frühen Röntgenologie ließen sich weit über die Medizin und Physik hinaus fortsetzen: So waren auch die Wiener Kunsthistoriker die international Ersten ihres Fachs, die Röntgenstrahlen als neue Analysetechnik einsetzten und früh perfektionierten: Bereits im Jahr 1896 durchleuchteten sie Gemmen und noch vor 1900 Mumien des Kunsthistorischen Museums Wien mit den neuen X-Strahlen.

Märtyrer des neuen Fachs

Guido Holzknecht erforschte als Erster die Gefährlichkeit der X-Strahlen und wurde zugleich ihr Opfer: Nach 64 Operationen starb er an Röntgenkrebs.
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Am wichtigsten blieb Röntgens Entdeckung aber in der Medizin, wo die Uni Wien auch bei der Etablierung der Radiologie die führende Rolle übernahm. Bereits 1904 habilitierten sich drei der frühesten Röntgen-Pioniere – Leopold Freund, Robert Kienböck und Guido Holzknecht – für das neue Spezialfach, das heute längst in viele weitere Subfächer ausdifferenziert ist.

Leopold Freund war der erste Mediziner, der die Röntgenstrahlen therapeutisch einsetzte und durch Bestrahlung den tierfellartigen Bewuchs eines Muttermals bei einem Mädchen reduzierte. Guido Holzknecht wiederum entwickelte das erste taugliche Strahlenmessgerät. Er hatte mit Robert Kienböck als einer der Ersten erkannt, dass die Schädigung der Haut von der verabreichten Strahlendosis abhängt.

Mit dem von ihm 1902 vorgestellten Chromradiometer konnten die Strahlenschäden an seiner Abteilung um fast 90 Prozent reduziert werden. Für Holzknecht kam die Entwicklung zu spät. Er wurde einer der ersten Märtyrer des neuen Fachs: Nach 64 verstümmelnden Operationen, bei denen ihm nach und nach Teile der Finger und des Arms entfernt wurden, starb der Professor für Röntgenologie mit nur 58 Jahren an Röntgenkrebs. (Klaus Taschwer, 10.2.2023)