Acht Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, debattieren über ihre Zukunft in der Mennonitengemeinde, nachdem sie grausames Unheil erfahren haben.

Foto: Orion Pictures

August (Ben Wishaw) liebt Ona (Rooney Mara), Salome (Claire Foy) ist wütend auf die Männer der Siedlung.

Foto: Orion Pictures

Sprechen und Gehörtwerden ist demokratisches Grundprinzip, und oft muss Sprache erst in langen Prozessen gefunden, um verstanden zu werden. Doch die Welt, in die uns Sarah Polleys Film Women Talking entführt, ist alles andere als demokratisch. Wir befinden uns in einer evangelikalen Mennonitensiedlung, irgendwo in Amerika. Dort haben sich die großteils deutschstämmigen Evangelikalen angesiedelt, um ihren weltabgewandten, durch und durch patriarchalen Glauben zu leben. Die Frauen der Siedlung besitzen kein Mitspracherecht, sind an Herd und Hof gebunden, erhalten keine Bildung. Lesen muss man schließlich nicht lernen, wenn man die Bibel auswendig kann.

In der Siedlung geht Grausames vor sich. Jeden Morgen wachen Frauen und Mädchen auf und finden sich misshandelt vor. Blutige Laken, ausgeschlagene Zähne, vergewaltigt. Die Männer behaupten, es handle sich um Dämonen, den Teufel gar, bis zwei Mädchen eines Nachts einen der Vergewaltiger ertappen und sich herausstellt, dass die Frauen über Jahre hinweg mit Pferdeberuhigungsmittel betäubt wurden – zum grausamen Vergnügen der Männer.

Der Beginn einer Politisierung

Die Täter werden für zwei Tage inhaftiert, so lange haben die Opfer Zeit, ihnen zu verzeihen. Die Frauen aber sind wütend, sie beginnen sich zu politisieren. Am Anfang steht die Wahl zwischen drei Handlungsmöglichkeiten – Verzeihen, Gehen oder Kämpfen –, wovon sich Ersteres schnell disqualifiziert. Bleiben also Gehen und Kämpfen. Um darüber zu entscheiden, hat sich eine Handvoll von ihnen in eine Scheune zurückgezogen.

In der Scheune entfesselt sich ein bewegendes Kammerspiel, getragen von klugen Dialogen und starken Darstellerinnen: Rooney Mara als schwangere Ona, eine sensible Einzelgängerin. Ihr Gegenpart Jessie Buckley, verhärtet und traumatisiert von der Gewalt, die sie nicht nur durch die Vergewaltiger, sondern auch durch ihren Ehemann erfahren hat. Und Claire Foy als wütende Kämpferin, die auf Rache sinnt. So unterschiedlich die Temperamente, so verschieden sind die Ansichten und Weisen, wie die Gewalt erfahren wurde und nachwirkt. Wut, Ängste, Sorgen und Handlungsoptionen werden diskutiert.

KinoCheck

Wie zusammen leben?

Doch es ist kein trockener Einblick in einen Debattierklub, den uns Polley hier präsentiert. Die entsättigten Farben, die eleganten, immer wieder auf Details verweilenden Kamerafahrten erinnern, gepaart mit dem bedrohlichen Unterton, an Michael Hanekes Das weiße Band. Dessen Kühle setzt Polley aber eine engagierte, wütende Hitze entgegen. Immer wieder bricht das Bild, zeigt einen blitzartigen Rückblick auf den jeweiligen Morgen nach der Attacke, den jede der Frauen anders erlebt und verarbeitet hat.

Auch das gehört zu den Fragen, die gestellt werden: Wenn wir alle Opfer desselben Verbrechens sind, warum gehen wir verschieden damit um? Welches Leben erwartet uns, wenn wir die Sicherheit der Kolonie verlassen? Falls wir bleiben, wie soll die künftige Gemeinschaft aussehen? Falls wir gehen, können wir unsere Buben mitnehmen, oder sind sie bereits von der Männer-Ideologie korrumpiert?

Zeitlose Debatten und eine Liebe

Die Debatten sind so zeitgemäß wie zeitlos. Ein Mann kommt vor, der Schullehrer, gespielt von Ben Wishaw. Als einziger Mann, als Einziger, der schreiben kann und die Welt da draußen kennt, hat er eine komplexe Rolle: Im Wissen überlegen und doch Randfigur, deren Aufgabe nicht ist, Ratschläge zu erteilen. Auch ist er verliebt in Ona. Eine berührende Liebe, die erahnen lässt, wie eine gleichberechtigte Ehe aussehen könnte.

Women Talking wurde dieses Jahr als einziger Film einer Frau zweifach für die Oscars nominiert: Er geht für den besten Film und das beste adaptierte Drehbuch ins Rennen. Letzterer dürfte Polley gewiss sein, die Adaption des Romans von Miriam Toews, der auf einem Fall in einer Mennonitengemeinde Boliviens basiert, ist kongenial gelungen.

Perspektive einer #MeToo-Betroffenen

Polley erzählt ebenfalls aus der Perspektive einer Betroffenen: Bereits als Kinderdarstellerin hat die 1978 geborene Kanadierin Übergriffserfahrungen im Filmbusiness gemacht. Davon berichtete sie erst kürzlich in dem Essayband Run Towards the Danger.

Dass Women Talking nicht nur als Problem einer evangelikalen Sekte, sondern als Parabel auf die Welt vor und nach #MeToo gelesen werden muss, wird spätestens dann deutlich, wenn das Auto eines Volkszählers mit dem lebensfrohen Monkees-Song Daydream Believer durch die Felder rauscht und die Handlung via Megafon zeitlich verortet: Es handelt sich erstaunlicherweise um das Jahr 2010. (Valerie Dirk, 10.2.2023)