Der Weg in die EU sei für die Ukraine "ein Weg nach Hause", sagte Präsident Selenskyj in seiner Rede in Brüssel.

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Bis vergangenen Montag wussten die meisten der 705 Abgeordneten des Europäischen Parlaments noch nicht, dass sie sich diese Woche zu einer Sondersitzung in Brüssel einfinden müssen. Der Besuch von Wolodymyr Selenskyj in der EU-Hauptstadt – offiziell zur Teilnahme beim EU-Sondergipfel der 27 Staats- und Regierungschefs – war bis dahin aus Sicherheitsgründen geheim gehalten worden.

Das Plenum war dennoch knallvoll, als der ukrainische Präsident am Donnerstag mit etwas Verspätung in den Sitzungssaal kam. Bereits auf dem Weg dorthin wurde er von hunderten Parlamentsmitarbeitern im Spalier mit Applaus begleitet. Selenskyj Superstar, das war beim ersten Auftritt seit Kriegsbeginn von der ersten Minute an sicht- und hörbar.

Die Christdemokratin Roberta Metsola betonte, wie wichtig diese Visite sei. Die Ukraine kämpfe im Krieg gegen Russland um die Werte Europas: "Die Zukunft Ihrer Nation ist in der Europäischen Union." Man wisse, welche Opfer die Bevölkerung gebracht habe und weiter bringe. Das Parlament unterstütze das Land bei der Belieferung mit militärischer Ausrüstung, werde das auch beim Wiederaufbau tun.

Kampfjets vor der Türe?

Und, etwas überraschend: Die Parlamentspräsidentin sprach sich dafür aus, dass man "als nächsten Schritt" erwägen müsse, "auch weitreichende Systeme und Flugzeuge bereitzustellen", ein Thema, das unter den Mitgliedsstaaten nach wie vor umstritten ist. Die Rüstung, sie stand auch im Zentrum der Bemerkungen, die Selenskyj nach einer Unterredung mit den Staats- und Regierungschefs der Union in einer Pressekonferenz machte. Er wisse von vielen Staaten, die grundsätzlich dazu bereit seien, der Ukraine Flugzeuge zu überlassen, sagte er. Das wolle er nun in bilateralen Gesprächen vertiefen. Zudem habe es auch weitere Einigungen bei dem Gipfel gegeben – diese werde man aber nicht kommunizieren, um Russland nicht zu informieren.

Die Rede vor dem Parlament hatte er noch dazu genützt, sich vor allem bei den Abgeordneten sowie den EU-Bürgerinnen und -Bürgern für die geleistete Hilfe zu bedanken. Man werde nicht vergessen, dass Millionen ukrainischer Kinder in EU-Ländern in Sicherheit gebracht wurden, dort in die Schulen gehen.

Immer wieder von frenetischem Applaus unterbrochen, ging der 45-Jährige in einem programmatischen Teil der Rede darauf ein, dass in diesem "historischen Kampf" nicht nur das Schicksal der Ukraine auf dem Spiel stehe. Russland versuche generell, die Demokratie, "unsere europäische Lebensart" zu zerstören. Dieser Begriff wird in der EU-Politik als Chiffre für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, Wohlstand und soziale Verantwortung, aber auch für Vielfalt verwendet. Selenskyj betonte, dass er und sein Land in diese Welt eintreten wollten, mit einem raschen EU-Beitritt nach einem Sieg im Krieg: "Für die Ukraine ist das ein Weg nach Hause."

Berlin zur Hilfe zwingen

Aber: Bei aller Bedeutung, die Selenskyj der Union in seiner Rede beigemessen hatte – der Reiseplan zeigte andere Prioritäten. Dass Selenskyj überhaupt sein Land verlassen hatte, wurde ja zuerst publik, als am Mittwoch die Meldung durchsickerte, er werde in London erwartet. Die Briten werden, vor allem was militärische Unterstützung betrifft, von den Ukrainern als verlässlichster Partner gesehen.

Der Auftritt geriet triumphal . "London ist uns vom ersten Tag an beigestanden", sagte Selenskyj dort und bedankte sich bei König Charles und Premier Rishi Sunak. London schickte Kiew schon Anfang 2022 Waffen, als andere zögerten – die Frachtflugzeuge mussten damals noch deutschen Luftraum meiden.

Diesen musste am Mittwochabend der deutsche Kanzler Olaf Scholz wiederum verlassen, um Selenskyj zu treffen. Denn der reiste von London nach Paris weiter, wo er bei Präsident Emmanuel Macron seine Bitte um Kampfflugzeuge erneuerte. Wie später bekannt wurde, hatte Selenskyj da Scholz schon in einem vorab gegebenen Spiegel-Interview ausgerichtet, er müsse diesen immer wieder "zur Unterstützung der Ukraine zwingen".

Dass Macron Selenskyj vor dem EU-Treffen zu sich einlud, sorgte bei anderen Verbündeten für Ärger. Italiens Premierministerin Giorgia Meloni, Ukraine-freundliche Kraft in einer sonst Russland zugeneigten weit rechten Koalition, teilte mit, die Visite habe Potenzial, EU-Einigkeit zu stören. (Sebastian Borger aus London, Manuel Escher, Thomas Mayer aus Brüssel, 9.2.2023)