Der Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker hat Kultstatus erreicht.

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Mit einer Mutter kommt jedes Erdenkind auf diese Welt, ein Vater muss zumindest vorhanden sein. Danach folgt schon die Möglichkeit der Existenz eines Bruders oder einer Schwester. Oder auch mehrerer. So war es im langen Atem der Geschichte, und so hallt es bis heute nach. Die traditionelle Familie ist und war komplementär – patriarchal und, knapp darunter, matriarchal – gefügt. Außen und innen. Polis und Oikos, Öffentlichkeit und Innenraum. Im Hinblick auf Geschlecht und Generation ist sie streng hierarchisch geordnet, aber noch im strengsten Oben-unten und Außen-innen der traditionellen Familie lässt sich ein Moment der Gleichheit finden, eben die Egalität der Brüder. Diesem Umstand verdankt die Figur des Bruders ihre metaphorische Schwungkraft: Alle Menschen werden Brüder, heißt es in Schillers Ode an die Freude, die Beethoven in eine Symphonie gegossen hat. 1793 begannen Pariser, folgende Worte auf ihre Hausfassaden zu schreiben: Einheit, Unteilbarkeit der Republik; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod. Es sind auch deshalb Brüder, weil in der nationalen Liturgie und im revolutionären Alltag der Französischen und vieler nachfolgenden Revolutionen (noch) kein Platz für Schwestern war. Ein kurzer Blick auf die Straßen Teherans unserer Tage zeigt, dass sich das mittlerweile geändert hat.

Schein der Brüderlichkeit

Man merkt es der Trinität an, dass mit der Brüderlichkeit ein emotionaler Überschuss zum Tragen kommt. Freiheit und Gleichheit sind philosophische Maximen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Es gibt einen Typus von Freiheit, der Ungleichheit, politische, soziale und ökonomische, generiert. Umgekehrt kann das unbedingte Streben nach Gleichheit Freiheit untergraben. Brüderlichkeit, obgleich mit Gleichheit verschwistert, ruft etwas anderes auf, Versprechen von Nähe, von Dazugehörigkeit. Alle Franzosen Brüder, das verwandelt eine Gesellschaft in eine empirisch unmögliche utopisch-kitschige Gemeinschaft von Seelen- und Geistesverwandten.

Die moderne Nation, das ist die Gemeinschaft der Brüder und Schwestern. Zwischen diesem Einheitstraum und der politischen Realität besteht ein Abgrund, auch wenn es heroische Situationen geben mag, in denen sich wildfremde Menschen um den Hals fallen, 1789 in Paris und 2022 in vielen Städten der in ihrem Bestand bedrohten Ukraine. Von dieser instabilen affektiven Aufladung dessen, was in der Pubertät sich zur Blutsbrüderschaft zu steigern vermag, lebt jedwede nationale Ordnung bis heute.

Doppelter Auftritt

Der Bruder hat einen doppelten Auftritt, als Lebensnachbar von Kindesbeinen an und als politische Figur. Die damit einhergehende Übertragung von der Familie auf die Polis ist problematisch, lässt sich doch keine moderne Gesellschaft als organische Einheit begründen. Insofern stellt die brüderliche Gemeinschaftsreligion ein ideologisches Gebilde dar. Moderne, von Geld und Interessenkonflikten geprägte Gesellschaften sind gerade keine harmonischen Gemeinschaften, sondern real-abstrakte Entitäten, in denen Menschen einander bestenfalls freundlich-gleichgültig gegenüberstehen.

Der Schein der Brüderlichkeit im intimen Kleinverband ist zudem trügerisch. Begibt man sich in die vormoderne Welt des Mythos oder auf das Feld der Psychologie, so wird schnell klar, dass die Botschaft der Brüderlichkeit durchaus zwiespältig ist und anders als in Schillers Ode das schiere Gegenteil von Zusammenhalt und Solidarität sein kann, nämlich unerbittlicher Kampf zwischen Ähnlichen, Rivalität um Gunst und Anerkennung von Vater, Mutter oder anderen Geschwistern. Der große Bruder kann der Beschützer vor der Außenwelt oder vor einem strengen Vater sein, Teilhaber an wunderbaren Kindheitserfahrungen, er vermag sich aber auch in eine bedrohliche Gestalt verwandeln, die den nachgeborenen Bruder, den unerwünschten Widersacher, kleinzuhalten versucht. Ob zwischen Brüdern automatisch Gleichheit und Einvernehmen besteht, bleibt fraglich. Nicht zufällig finden wir in den Erzählungen der Bibel und im Mythenbestand der Antike, aber auch außereuropäischer Kultur ganz prominent den Brudermord. Der Mythos von Kain und Abel erzählt, wie der eine Bruder den anderen erschlägt, weil der Vater ihm die Anerkennung versagt hat, die er dem anderen Bruder erwiesen hat.

Gescheiterte Versöhnung

Kompliziert verhält es sich in jener mythischen Erzählung, die sich an das tragische Schicksal des ungewollten Vatermörders knüpft. Die Söhne aus der inzestuösen Beziehung Ödipus’ mit seiner Mutter Iokaste, die vom Vater verfluchten Brüder Eteokles und Polyneikes, stehen sich in einem dramatischen Kampf um die königliche Nachfolge in Theben gegenüber. Von Brüderlichkeit keine Spur. Das Duell zwischen ihnen endet tödlich – die familiäre Versöhnung, die ihre überlebende Schwester versucht, scheitert tragisch.

Bekanntlich ist Familie kein Hort des Friedens. Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit kennen Grenzen. Wenn Gewalt das Symptom vorangegangener Streitigkeiten und Kränkungen ist, dann ist der kleinfamiliäre Verband aus Vater, Mutter, Brüdern und Schwestern durchaus ein vulkanisches Territorium. Das hat mit der fatalen Ambivalenz von Nähe zu tun.

Instrument der Unterdrückung

Brüderlichkeit ist deshalb ein so dichter Archetyp, weil in der Figur des Bruders familiäre Innenwelt und Außenwelt miteinander verschmelzen bzw. sich überlagern. Der Bruder, Vertreter einer neuen Generation, repräsentiert potenziell die Gegenwelt zu Vater, Mutter und Familie. Schon für den Jesus des Neuen Testaments befinden sich die wahren Brüder nicht in der Familie, sondern in einer neuen, nicht selten kinderlosen Lebensform, in der religiöse Überzeugung und Alltagsleben zusammenfallen. Nahezu sämtliche Brüderbünde dieser Welt haben diesen Bruch mit der Ordnung des Vaters vollzogen, von Frühchristen, Ordensbrüdern, reformatorischen Sektierern, Geheimgesellschaften, der Jugendbewegung über "konservative Revolutionäre", Bolschewiken bis hin zu den Hippies der 1960er-Jahre. Brüderlichkeit ist ein adoleszentes Projekt.

Bruderschaften werden in Gestalt von Geheimlogen, Orden und Sekten zum Ersatz für Familie. Die Vereinigung nicht miteinander verwandter Menschen, vornehmlich Männer, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sie nicht natürlich-biologisch zu reproduzieren vermag. In seiner Saga über die Oktoberrevolution (Das Haus der Regierung) hat der russisch-amerikanische Historiker Yuri Slezkine auf diese merkwürdige Ähnlichkeit zwischen den frühchristlichen Sekten und den eingeschworenen bolschewistischen Revolutionären hingewiesen, einer gutorganisierten, sektenartig um ihren Führer gescharten Elitetruppe, die wie ihr Vorbild, die Jakobiner, eine moderne industrialisierte Gesellschaft nach einem brüderlichen Ordnungsmodell organisieren wollte. Immerhin ließ diese millenaristische Sekte, die das Ende von Kapitalismus und Geld verkündete, anders als Mönchsorden und Freimaurerlogen, auch Schwestern zu, ordnete indes ihr Privatleben den Zielen der Bruderschaft unter. Im Gefolge von Stalins Verkündung des Aufbaus des Sozialismus wurde ein gigantisches Haus der Regierung errichtet, in der die neue Elite Tür an Tür in einer einzigen brüderlichen Lebensgemeinschaft wohnen sollte.

Zwang und Terror

Viele Brüder und Schwestern werden im Gulag enden. Spätestens seit dem national gefärbten Sozialismus des großen Bruders Stalin ist dieser Wunsch nach Brüderlichkeit in Zwang und Terror umgeschlagen. Was zu Anfang der Französischen Revolution als Losungswort für eine neue freie Assoziation steht, die die Ketten traditioneller Unterdrückung abschütteln soll, mutiert zu einem Instrument der Unterdrückung, die einem schwarzen Narrativ von Brüderlichkeit folgt: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein. Der heutige Regent im Kreml hat mit der Brüderlichkeit der Bolschewiki wenig gemein, aber im Umgang mit dem ukrainischen "Brudervolk", das bekanntlich schon in stalinistischer Zeit auf unvorstellbare Weise malträtiert worden ist, folgt Putins Politik der obigen Losung.

Ob es nun am musikalischen Genie Beethovens oder an der Dichtkunst Schillers liegen mag: Noch immer kann uns die neunte Symphonie in einen erhabenen Zustand versetzen. In diesem Augenblick glauben wir, dass es möglich sein könnte, den anderen Bruder und Schwester zu sein. So wie wir an Gott glauben, wenn wir eine Messe von Johann Sebastian Bach hören. Sozial verhalten können wir uns indes auch ohne fraternalistisches Pathos. (Wolfgang Müller-Funk, 13.2.2023)