Schon das verheerende Erdbeben von 1999 – damals verloren in der Region rund um İzmit nahe Istanbul mehr als 18.000 Menschen ihr Leben, 50.000 weitere wurden verletzt – hatte die Türkei schwer traumatisiert. Doch die Bebenkatastrophe zu Wochenbeginn im östlichen Teil des Landes und in Teilen Syriens übertraf alles bisher Bekannte. Allein in den ersten Tagen mussten Helfer und Behörden beider Länder mindestens 22.000 Tote verzeichnen – und die Chance, überhaupt noch Menschen lebend aus den Trümmern zu bergen, schwindet mit jeder Stunde.

Kahramanmaraş gehört zu den vom Beben am stärksten betroffenen Städten. Die Berge- und Hilfsarbeiten laufen pausenlos.
Foto: REUTERS/Suhaib Salem

Daher mutete es fast wie ein Wunder an, als Helfer mehr als 80 Stunden nach der Katastrophe in der Nacht zum Freitag bei eisigen Temperaturen im stark verwüsteten Antakya im Süden der Türkei eine 16-jährige Jugendliche aus einem eingestürzten Gebäude retten konnten – unter lautem Jubel in der von Verzweiflung und Trauer überschatteten Stadt.

Auch die Bergung eines Babys, das unter den Trümmern zur Welt kam – die Mutter starb –, sorgte für Freude. Die kleine Aja wurde vorerst von der Frau des Krankenhausleiters Attija Chalid versorgt. "Meine Priorität ist, dass sie gesund wird", berichtete er der Deutschen Presse-Agentur. Wer das Kind später aufnehmen werde, sei noch unklar. Es habe schon Kontakt mit Verwandten gegeben.

Eigentlich – so zeigen jahrzehntelange Erfahrungswerte aus vergleichbaren Unglücksfällen – gilt der Zeitraum von 72 Stunden, also von drei Tagen und Nächten, als äußerster Zeitrahmen, in dem man noch mit Überlebenden rechnen kann. Dennoch lassen die Hilfstrupps nichts unversucht – auch über den kritischen Zeitrahmen hinaus, wie dies Bernhard Lindenberg, Einsatzleiter eines österreichischen Teams des Bundesheers, im STANDARD-Gespräch bestätigt.

Harsche Kritik an Erdoğan

Während zumindest die internationale Hilfe innerhalb weniger Tage in Schwung gekommen ist, wird der starke Mann der Türkei, der über weite Strecken autoritär regierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, mit immer lauterer Kritik konfrontiert. Er – der politisch direkt und indirekt von der Erdbebenkatastrophe von 1999 profitieren konnte und 2003 an die Macht kam – wird dafür kritisiert, in den langen Jahren seiner Amtszeit als Ministerpräsident und dann als Staatschef nicht genug für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger seines Landes getan zu haben.

Erdoğan und sein straff organisierter Machtapparat hätten Warnungen von Fachleuten konsequent ignoriert, es sei trotz entsprechender Gesetzesnovellen nach 1999 nichts mit den Steuergeldmilliarden passiert. Aber auch aus der Politik gab es Kritik: Nur zwei Wochen vor der Bebenkatastrophe hatte etwa Lütfü Savaş, Bürgermeister der nun massiv betroffenen Stadt Antakya, laut einem Bericht des deutschen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" gewarnt: "Antakya ist nicht bereit für ein großes Erdbeben. Egal wie viele Briefe wir an die Ministerien schicken, wir bekommen keine Antwort."

Die Regierung und Präsident Erdoğan persönlich behaupten nun, das Beben sei ein Schicksalsschlag gewesen – Gottes Wille sozusagen; dagegen habe man nicht ankommen können. Wer die Regierung kritisiere, sagte Erdoğan bei einem Auftritt im Katastrophengebiet, sei ein "Unruhestifter und Provokateur", der bestraft werden müsse.

Festnahmen, interne Berichte

Insgesamt 37 Kritiker, die sich in den sozialen Medien darüber beschwert hatten, dass der Staat die Opfer alleinlässt, sind bis Freitag bereits festgenommen worden.

Erdoğans Kritik richtete sich auch an Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, der sich aber nicht einschüchtern ließ, sondern nachlegte, indem er einen internen Bericht des Katastrophenschutzes AFAD öffentlich machte: Die Behörde selbst hatte bereits im Herbst 2022 festgestellt, dass man auf ein großes Beben nicht vorbereitet sei.

"Was hat die Regierung mit diesem Bericht gemacht?", fragte Kılıçdaroğlu. "Haben Sie nicht zugehört?" Sowohl Kılıçdaroğlu für die CHP wie auch die kurdisch-linke HDP kritisieren außerdem, dass eigene Rettungsinitiativen von ihnen, insbesondere in den Städten, in denen sie den Bürgermeister stellen, von der Regierung eher behindert als befördert worden seien.

Erdoğan, so beklagt es die HDP, gehe es mehr um Kontrolle als um Hilfe. Dazu passt, dass der Präsident zwar keine Unterstützung im großen Stil, beispielsweise durch die Armee, organisierte, aber bereits am Dienstag den Ausnahmezustand für die gesamte Region verkündete, den das Parlament zwei Tage später schnell bestätigte. Dadurch lässt sich die Deutungshoheit über das Geschehen vor Ort besser kontrollieren.

Erst nach Tagen ließ sich Recep Tayyip Erdoğan bei den Bebenopfern blicken.
Foto: EPA/MURAT CETINMUHURDAR/TURKISH PRESIDENTIAL PRESS OFFICE

Auswirkungen auf die Wahlen

Im Mai ist die wohl seit Jahrzehnten wichtigste Präsidenten- und Parlamentswahl geplant. Erst einmal aber ist unklar, ob die Wahl dann überhaupt stattfinden kann. Im Moment ist es schwer vorstellbar, dass in der riesigen Katastrophenzone, die sich über zehn Provinzen erstreckt, innerhalb von drei Monaten überhaupt die technischen Voraussetzungen geschaffen werden können, dass dort gewählt werden kann.

Außerdem wird es der für drei Monate erklärte Ausnahmezustand in diesen Provinzen, der erst eine Woche vor dem geplanten Wahltermin am 14. Mai endet, der Opposition kaum erlauben, dort für sich zu werben.

Erdoğan reagiert ja auch deswegen so harsch auf Kritiker, weil er Angst hat, dass ihm sein schlechtes Katastrophenmanagement bei der Wahl buchstäblich auf die Füße fallen könnte. Diese Angst ist nicht unberechtigt, denn genau die völlig unzulänglichen Maßnahmen nach dem schlimmen Erdbeben 1999 waren ja ein wesentlicher Grund, warum seine AKP bei den Wahlen 2002 dann haushoch gegen die damals amtierende Regierung gewann. Der Leitartikler der oppositionellen Tageszeitung "Cumhuriyet" erinnerte bereits am Donnerstag an das Beben von 1999, dessen politische Folgen einer Zeitenwende gleichkamen. Dasselbe, so die "Cumhuriyet", könnte jetzt wieder passieren: "Sie (die AKP) kamen durch ein Beben an die Macht, sie werden durch ein Erdbeben gehen."

Prekäre Lage in Syrien

Auch im zweiten vom Beben betroffenen Land steht der Machthaber in der Kritik. Denn laut einem Bericht des Onlineportals "Middle East Eye" hat das Regime nur kurz nach der Katastrophe Rebellengebiete bombardiert, in denen Einwohner gerade dabei waren, Verschüttete aus Trümmern zu retten. Alicia Kearns, Vorsitzende des britischen Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, sprach von einem "wirklich gefühllosen und abscheulichen Angriff".

Befürchtet wird nun, dass das Regime von Bashar al-Assad das Erdbeben weiter ausnützen könnte, um die Oppositionellen im Nordwesten des Landes in der Region Idlib weiter zu schwächen. So verwundert es nicht, dass genau dort internationale Hilfe offenbar noch nicht wirklich angekommen ist. Die syrische Rettungsorganisation Weißhelme monierte, dass UN-Hilfsgüter aus den regierungskontrollierten Gebieten noch nicht in Idlib angekommen seien. Und Hilfe aus der Türkei läuft aus logistischen Gründen nur schleppend an: Die Route über den einzigen offenen Grenzübergang wurde durch das Beben beschädigt.

Doch auch in den von der Regierung kontrollierten syrischen Erdbebengebieten ist die Not groß. Andreas Knapp, Generalsekretär der Caritas Österreich für Auslandshilfe, befindet sich in der Stadt Aleppo, die Assad am Freitag besucht hat. "Die eingestürzten mehrstöckigen Wohngebäude zu sehen trifft einen hart", sagte er dem STANDARD. Das, was die Einwohner derzeit am meisten beschäftige, sei die Angst vor weiteren Einstürzen.

Laut Schätzungen sei ein Drittel der noch stehenden Gebäude einsturzgefährdet. Deshalb seien die öffentlichen Parkflächen tagsüber überfüllt – und nachts die Notunterkünfte. "Niemand will heim", sagt Knapp. Aktuell sei am wichtigsten, die Notunterkünfte auszubauen und mit dem Nötigsten wie Lebensmitteln und Decken auszustatten.

Um die humanitäre Hilfe in Syrien zu vereinfachen, haben die USA ihre Sanktionen gelockert. Man erlaube 180 Tage lang Transaktionen, hieß es aus Washington. Wie sehr damit den Oppositionellen geholfen werden kann, wird man sehen.

Schwierige Berge- und Aufräumarbeiten auch in Aleppo, Syrien.
Foto: REUTERS/Firas Makdesi

Wiederaufbau kostet Milliarden

Das Erdbeben zerstörte Tausende von Gebäuden – Wohnhäuser, Spitäler, Schulen, Produktionsstätten – sowie Straßen, Pipelines und andere Infrastruktur. Genaue Zahlen dazu, wie viel der Wiederaufbau kosten wird, gibt es noch nicht. Erste Schätzungen sprechen jedoch von mindestens 50 Milliarden Dollar allein in der Türkei, so der österreichische Wirtschaftsdelegierte Gerhard Lackner – in etwa fünf Prozent des BIP. "Die Beben bedrohen so viele Existenzen. Es ist wichtig, den Wiederaufbau schnell zu starten", sagt er.

Die für die Region relevantesten Wirtschaftsbereiche sind der Tourismus, die Agrar- und Viehwirtschaft sowie die Fabriken der Region. Hergestellt werden dort vor allem Lebensmittel wie Teigwaren und Textilien wie Teppiche, außerdem werden Pistazien sowie andere Nüsse angebaut und exportiert. Die Infrastruktur für die Bewohner und die Wirtschaft müsse schnellstmöglich wiederhergestellt werden, so Lackner. Die zehn österreichischen Betriebe in der Region würden wertvolle Unterstützung leisten, ergänzt er. Etwa die österreichische Post: Sie liefere Zelte für die Menschen, die ihre Häuser verloren haben.

Das Beben trifft die türkische Wirtschaft in einem schwierigen Moment: Bereits vor dem Beben waren die Lebenshaltungskosten in der Türkei massiv gestiegen, die Inflation im Land lag zwischen August und November bei rund 80 Prozent, derzeit ist sie auf knapp 60 Prozent gesunken. Angetrieben wurde die wirtschaftliche Krise von den hohen Energiepreisen am Weltmarkt, den Folgen der Pandemie, Russlands Krieg in der Ukraine sowie Erdoğans umstrittener Entscheidung, Zinssätze trotz der massiven Inflation niedrig zu halten.

Frühere Versprechungen Erdoğans in diesem Umfeld, Gehälter zu erhöhen und das Pensionsalter zu senken, könnten nun deutlich schwieriger zu finanzieren sein. Schließlich muss ein großer Teil des Budgets nun in den Wiederaufbau der zerstörten Städte und Dörfer fließen. (Kim Son Hoang, Alicia Prager, Gianluca Wallisch, Wolf Wittenfeld, 10.2.2023)