Die Corona-Pandemie führte erstmals ein Schreckensszenario vor Augen: Leere Sitzreihen in zahlreichen Kulturspielstätten. Seither wird das Thema Publikumsschwund kontrovers diskutiert.

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Die gute Nachricht vorweg: Untergangsszenarien sind keine eingetreten. Der Kulturbetrieb – in dem in Österreich 160.000 Menschen arbeiten – hat den akuten Covid-Stresstest relativ gut überstanden. Und glaubt man den jüngsten Zahlen, erholt sich die Branche auch vom Long-Covid-Leiden zusehends. Die acht Bundesmuseen etwa konnten ihre Besuchszahlen von 2021 auf 2022 mit 5,4 Millionen verdoppeln, wenngleich man damit immer noch 20 Prozent unter Vorkrisenniveau bleibt. Konzerte und Kinos sind wieder passabel besucht, leicht aufwärtsgeht es auch bei Theatern und Opernhäusern.

Und dennoch: Gerade im Theaterkontext wird die Publikumskrise in den letzten Monaten kontrovers diskutiert, oft werden ästhetsche Gründe heraufbeschworen: Linke beklagen konservative Strukturen, Konservative wettern gegen linkes Regietheater. Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) verteilt Beruhigungspillen und lässt eine Studie erstellen. Im März soll sie fertig sein.

Überalterung und Nische

Abseits von naheliegenden Gründen wie jenem, dass älteres Publikum noch immer aus Angst vor Ansteckung auf Kulturevents verzichtet, wurde vor allem ein Aspekt in der Debatte bislang ausgespart: der demografische Wandel. Er passiert unabhängig von Pandemie und Kämpfen um Ästhetik, erfasst vom Pensionssystem über Wahlen und Pflege bis hin zur Migrationsthematik alle Bereiche der Gesellschaft und stellt gerade auch den Kulturbetrieb vor strukturelle Probleme.

Der Befund: Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge – in den letzten 30 Jahren waren sie wirtschaftliches wie ideelles Rückgrat des Kulturbetriebs – rücken ins Pensionsalter vor, nachfolgende Generationen können die Lücken nicht restlos füllen: Auf eine heute 16-jährige Person kommen zwei bis drei 60-Jährige. Allein deswegen bleiben Sitzplätze frei – und das Programm oft so, wie es ist.

Hinzu kommt, dass das digitale Konkurrenzangebot durch Streaming steigt und steigt. Abgesehen von den Inhalten stellt sich die Frage, ob jungen Menschen überhaupt die Zeit bleibt, um neben Netflix, Youtube, Tiktok und Co auch noch ins Konzert, Theater, Museum, Kino, in den Club, zur Podiumsdiskussion oder gar zur gediegenen Literaturlesung zu gehen.

Der Kulturwissenschafter Thomas Renz vom Berliner Institut für Kulturelle Teilhabeforschung kennt die Problematik. Zwar werde das Digitale nicht als 1:1-Ersatz dem Live-Erlebnis vorgezogen, dieser Schluss wäre zu einfach; aus Untersuchungen wisse man aber, dass junge Menschen Kulturangebote heute generell in deutlich geringerem Ausmaß wahrnehmen als noch vor 30–40 Jahren. Digitale Zeitfresser spielen dabei eine Rolle.

Die Alterspyramide zeigt sich in den meisten westlichen Ländern vasenförmig: Auch in Österreich stehen viele Ältere über 60 wenigen Jungen unter 30 gegenüber.
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Die Soziologin Susanne Keuchel weiß aus Befragungen, dass bei jungen Menschen "absolutes Unverständnis darüber herrscht, wenn ein Kulturangebot nicht im Netz abrufbar ist. Das, was im Digitalen nicht vorkommt, wird häufig im Analogen gar nicht wahrgenommen." Zu bedenken gibt Keuchel auch, dass heutige 16-Jährige 20 Prozent ihres Lebens im digitalen Totalrückzug während der Pandemie verbracht haben. Kein Wunder, dass das Spuren hinterlässt.

Studien zeigen, dass Oper und Theater bei jungen Menschen schlechte Karten haben. Bildende Kunst kommt noch am besten weg. Warum, ist nicht ganz geklärt. Vielleicht weil Museen der visuellen Logik sozialer Netze am nächsten kommen. Und auch banalere Gründe wie das gestiegene Bedürfnis nach terminlicher Ungebundenheit spielen eine Rolle.

Fakt ist, so gut wie alle Kultureinrichtungen bemühen sich heute darum, Junge zu erreichen. So wirklich gelingen will das aber nur jenen, die auf Zielgruppenoptimierung abzielen können: Kleine Einrichtungen schaffen sich so ihre Nischen, große privatwirtschaftliche Player wie Streamingplattformen bringen die Nische zu den Leuten, individuell maßgeschneidert direkt ins Wohnzimmer. Übrig bleiben die Tempel bürgerlicher Hochkultur, jene, die sich keine radikale Zielgruppenfokussierung leisten können, aber trotzdem Zukunft haben wollen.

Angebot, Nachfrage, Kulturpolitik

Die Debatte über ein potenzielles Überangebot werde kulturpolitisch derzeit nicht geführt, sagt Renz. "Es galt und gilt die Devise: Kulturförderung ist per se gut." Die Frage, ob ein bestimmtes Angebot vielleicht überdimensioniert oder gesellschaftlicht nicht mehr relevant genug ist, werde nicht gestellt. Dabei solle man ohne Scheuklappen diskutieren, welche kulturellen Orte sich die Gesellschaft weiter leisten will und welche nicht.

Soziologin Keuchel warnt prinzipiell davor, weniger Kultur zu fördern. Sie plädiert für ein Abrücken von der Idee, dass öffentliche Einrichtungen mit privatwirtschaftlichen auf allen Ebenen mithalten müssen. Vielmehr solle an der kostenlosen Zugänglichkeit subventionierter Kultur gearbeitet werden.

Das junge Publikum ist aber nicht nur zahlenmäßig kleiner, es ist auch ethnisch und kulturell vielfältiger. Der Rückzug in Nischen oder "Milieus", wie Keuchel sagt, sei dabei "lange gutgegangen". Damit einher gehe aber immer auch "die Vermeidung von Aushandlungsprozessen. Irgendwann geht das nicht mehr. Und dann kommt es zu Polarisierung." Beide Experten plädieren für Durchmischung in soziokulturellen Räumen, die der Zersplitterung in Milieus entgegenwirken.

Die Kulturpolitik scheint sich der Bedeutung dieser Fragen zumindest bewusst zu sein: Der Bund lässt Studien erstellen, die Stadt Wien eine Kulturstrategie bis 2030 ausarbeiten. Dass unabhängig von Alter und Herkunft laut manchen Befragungen bis zu 50 Prozent der Bevölkerung überhaupt keine Kulturveranstaltungen besuchen, steht auf einem anderen Blatt. Das wäre wohl ein Auftrag ans Bildungssystem. (Stefan Weiss, 12.2.2023)