So viel Müll wie nach einer Pride-Parade liegt nicht jeden Tag auf der Straße. Aber es gibt schon viel Dreck.

Foto: IMAGO/Virginia Garfunkel

Die bemerkenswerte Genese der Ampel im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, an der Ecke Hultschiner Damm/ Rahnsdorfer Straße, kennt in Berlin fast jeder. Im Mai 1996 entschied die Verkehrsverwaltung erstmals, dass die Ampel dort aufgestellt werden soll.

Das ist dann auch geschehen. Bereits 25 Jahre später (kein Witz!), im Sommer 2021 leuchtete es an der Kreuzung erstmals rot, gelb und auch grün. Allerdings gab es dann Probleme bei der Schaltung. Die Folge: Staus und wieder genervte Autofahrer.

Irgendwie bringt die Geschichte der Ampel sehr viel Berlin auf den Punkt: Vieles kommt zu spät. Und dann funktioniert es nicht.

Die digitale Verwaltung lahmt, oft fallen wichtige S- und U-Bahnen aus, der Dreck in vielen Ecken nervt. Angesichts der Berliner Landtagswahl am morgigen Sonntag fragen sich immer mehr Menschen: Warum klappt hier so vieles nicht?

Die Wahl, eine Riesenblamage

Denn die Wahl selbst ist ja auch einem Fehler zu verdanken, und zwar einem kapitalen. Erstmals in der fast 74-jährigen Geschichte der Bundesrepublik wird eine Wahl in einem Bundesland komplett wiederholt.

Nicht nur in ein paar Stimmkreisen, sondern flächendeckend, weil bei der ursprünglichen Wahl 2021 so viele Fehler passiert sind, dass die Hüter der Verfassung demokratische Prinzipien ausgehöhlt sahen.

Flugs gab es einen neuen Schenkelklopfer, der den beliebten und jahrelang gültigen Klassiker "Berlin kann nicht mal einen Flughafen bauen" ablöste: "Berlin kann nicht mal Wahlen organisieren."

Dazu kam am 31. Dezember der neueste Klage-Hit: Eine Silvesternacht ohne Randale zu organisieren, das schafft Berlin auch nicht. Mit Gruseln liest man derzeit zudem, dass Angehörige mehrere Wochen auf Sterbeurkunden warten müssen.

"In Berlin gibt es miserenhafte Zustände, die Dinge liegen im Argen", sagt der Verwaltungswissenschafter Wolfgang Seibel (Uni Konstanz.) Als Grund des Übels in der Verwaltung gilt ein historischer Webfehler. 1920 entstand "Großberlin", es schlossen sich mehr als 60 Teilgemeinden zusammen: ein urbaner Kern, aber auch ländliche Gemeinden.

Das frühere Erfolgsmodell hinkt

"Man sah die Notwendigkeit, stark zu dezentralisieren, um unterschiedlichen Verhältnissen durch leistungsfähige Bezirksverwaltungen Rechnung zu tragen. Die zentrale Ebene der Stadtverwaltung sollte sich auf Aufgaben der Planung und Koordination konzentrieren, aber auch beschränken", so Seibel.

Damals war es ein "Erfolgsmodell". Aber, sagt Seibel: "In diesem konnten die Bezirke ihre Unentbehrlichkeit für die Alltagsverwaltung auch als Machtfaktor nutzen."

Das tun sie bis heute. Die mächtigen Bezirke lassen sich nichts dreinreden. "Sie würden bei einer Verwaltungsreform vermutlich diese starke Stellung einbüßen. Dagegen gibt es Ablehnung quer durch alle Parteien. Um eine große Reform zu starten, müssten Senat und Bezirke an einem Strang ziehen", erklärt die Politologin Julia Reuschenbach von der Freien Universität Berlin die Malaise.

Der Berliner Tagesspiegel hat dafür einen treffenden Begriff geprägt: "organisierte Verantwortungslosigkeit". Chefredakteur Lorenz Maroldt fragt sich oft: "Warum gehe ich nicht auf die Barrikaden und alle anderen auch?"

Brandenburger Gegend

Oder zieht weg, raus nach Brandenburg. Aber dort ist halt vor allem Gegend. Und die Romane von Juli Zeh beschreiben eindrucksvoll, dass auch nicht alles Bullerbü ist.

"Dit is halt Balin", heißt es zum Trost in der Stadt. Man hat sich in seiner Hassliebe bequem eingerichtet. Sich daran gewöhnt, dass ganze Straßenzüge wochenlang Baustellen sind, aber nichts passiert. Dass Eltern in ihrer Freizeit die Schule selbst renovieren oder ihren Kindern Klopapier mitgeben.

Wenn man Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) darauf anspricht, reagiert sie genervt. Immer dieses Berlin-Bashing! Man solle sich doch einfach mal über das freuen, was klappt. Und überhaupt: Diese weltoffene Stadt der vielen Möglichkeiten!

Das ist zwar für eine Metropole mit Weltflair, die Berlin sein will, ein bescheidener Anspruch. Aber klar, es gibt viel, das einen hält: Clubs, Museen, immer neue Bars, eine starke Kreativszene, Wasser, Grün, diverse Communitys und vor allem einen Laisser-faire-Stil, der sich an das Credo des Preußenkönigs Friedrich II. anlehnt: Jeder solle nach seiner Façon selig werden.

CSU klagt über "failed state"

Das alles ist natürlich Munition für jene im Süden Deutschlands, die sich rühmen, die Ordentlichsten und Erfolgreichsten zu sein. Die CSU nennt Berlin mittlerweile "failed state". In Bayern schaut man ja ohnehin mit Argusaugen auf die linke Hauptstadt.

"Arm, aber sexy", die geniale, von Ex-Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ersonnene Beschreibung ist vielen dort ein rotes Tuch. Berlin macht Party, leistet sich Wohltaten wie Gratiskindergärten für alle, die anderen zahlen via Finanzausgleich.

Irgendwie erzeugt Berlin immer Reibung. Die Hauptstadt existiert wie unter einem Brennglas. Alle haben eine Meinung dazu.

Aber das Gejammere der CSU hat schon auch ihr Gutes. Bei Verbalattacken aus dem Süden rücken die Berliner zusammen. Und auf einmal finden sie ihre Stadt sehr cool. Weil. Von außen lassen wir uns "unsa Balin" echt nicht madig machen. (Birgit Baumann aus Berlin, 12.2.2023)