Viele Menschen werden nach wie vor vermisst.

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Istanbul/Gaziantep/Idlib – Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien mit mindestens 28.000 Toten hat das österreichische Bundesheer seine Rettungsaktionen aufgrund einer zunehmend schwierigen Sicherheitslage drastisch reduzieren müssen. Nach einer kompletten Unterbrechung der Arbeiten durften zwei Hundeführer mit ihren Tieren Samstagnachmittag wieder nach Vermissten suchen, wie Marcel Taschwer, Sprecher des Verteidigungsministeriums, dem STANDARD sagte.

Samstagfrüh musste die Truppe ihre Suche nach verschütteten Menschen im Krisengebiet stoppen. "Der erwartbare Erfolg einer Lebendrettung steht in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem Sicherheitsrisiko", sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis Samstagvormittag der APA. "Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein", sagte Kugelweis weiter.

Auch das deutsche Technische Hilfswerk (THW) und die Hilfsorganisation I.S.A.R Germany unterbrachen wegen Sicherheitsbedenken ihre Rettungsarbeiten. In den vergangenen Stunden habe sich nach verschiedenen Informationen die Sicherheitslage in der Region Hatay geändert, teilten die Organisationen am Samstag mit. Such- und Rettungsteams blieben vorerst im gemeinsamen Basislager in der Stadt Kirikhan. Insgesamt seien 8.513 Helferinnen und Helfer aus 68 Ländern in den betroffenen Gebieten im Einsatz, teilte das Außenministerium in Ankara am Samstag mit.

Wut und Verzweiflung

Bereits zuvor sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass in einigen Teilen des Landes der Ausnahmezustand verhängt wurde. Menschen, die Märkte plünderten oder Geschäfte angriffen, sollten so leichter bestraft werden. Allerdings stieg in der Bevölkerung auch Wut und Verzweiflung über die zu langsam angelaufenen Hilfsaktion der offiziellen Behörden. Es soll zu Aufständen gekommen sein.

Bei den im Mai anstehenden Wahlen könnte das eine entscheidende Rolle spielen, ob sich Erdoğan im Amt halten kann. Am Freitag räumte er bei einem Besuch im Katastrophengebiet ein, dass die Hilfe nicht so schnell geleistet worden sei wie gewünscht.

Zahl der Todesopfer steigt weiter

Allein in den betroffenen Gebieten in der Türkei sind 24.617 Menschen ums Leben gekommen, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay am Samstagabend. Mindestens 80.278 Menschen seien verletzt worden.

In Syrien wurden mehr als 3.500 Todesopfer gemeldet. Viele Menschen werden noch unter den Trümmern vermisst. Etwa 24,4 Millionen Menschen sind der Türkei zufolge von den Erdbeben betroffen. Über eine Million Menschen hätten kein Dach mehr über dem Kopf und seien in Notunterkünften untergebracht, sagte Vizepräsident Oktay.

DER STANDARD

Insgesamt wurden in der Türkei laut den Behördenangaben fast 93.000 Menschen aus den Erdbeben-Gebieten herausgebracht. Mehr als 166.000 Einsatzkräfte seien an den Rettungs- und Hilfseinsätzen beteiligt. Seit dem ersten Beben Montag früh seien fast 1.900 Nachbeben registriert worden.

Das betroffene Gebiet erstreckt sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet. Unzählige Menschen müssen bei eisigen Temperaturen im Freien, in ihren Autos oder in Zeltnotlagern ausharren, weil sie obdachlos wurden oder ihre Häuser einsturzgefährdet sind. Vielerorts mangelt es an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten.

Einzelne Rettungen

Trotz schwindender Hoffnungen gelingt es den Rettungskräften fünf Tage nach der Katastrophe immer wieder, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten. Fast fünf Tage nach den Beben haben Rettungskräfte in der Türkei einen neunjährigen Buben aus den Trümmern geborgen. Der Bub namens Ridban sei in Kahramanmaras rund 120 Stunden in einem eingestürzten Haus eingeschlossen gewesen, teilte die israelische Armee am Samstag mit. Er sei das dritte Mitglied einer Familie, das von dem israelischen Team geborgen worden sei.

122 Stunden nach den Erdbeben wurden in der Türkei auch zwei Frauen gerettet. Wie auf Bildern der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi zu sehen war, wurde eine 70-Jährige in der Provinz Kahramanmaras in eine Decke gehüllt in einen Rettungswagen getragen. Eine 55-Jährige wurde in Diyarbakir lebend aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen. Die Rettungskräfte zogen in Kahramanmaras 112 Stunden nach dem Beben auch einen 46 Jahre alten Mann aus der Ruine eines siebenstöckigen Gebäudes, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete.

In der Provinz Gaziantep wurde eine schwangere Frau nach 115 Stunden zurück ans Tageslicht geholt. Ebenfalls in Gaziantep bargen Helfer ein neunjähriges Mädchen nach 108 Stunden aus dem Schutt – ihre beiden Eltern und ihre Schwester waren da jedoch schon tot. In der osttürkischen Provinz Kahramanmaras konnte ein 15-jähriges Mädchen nach über 110 Stunden lebend geborgen werden, wie der Samariterbund mitteilte.

Gerettete Frau verstorben

Eine Frau, die ein deutsches Rettungsteam nach Tagen im türkischen Erdbebengebiet aus den Trümmern bergen konnte, ist in der Nacht zum Samstag in einem Krankenhaus gestorben. Wie die Hilfsorganisation ISAR Germany mitteilte, berichteten die Angehörigen der 40-Jährigen, die den Vornamen Zeynep trägt, den Rettungskräften über ihren Tod.

"Wir sind wirklich sehr traurig und betroffen", sagte ISAR-Sprecher Stefan Heine der Nachrichtenagentur AFP. "Aber wir sind froh, dass sie durch die Bergung wenigstens noch einmal die Chance hatte, ihre Familie wiederzusehen."

Türkisches Unternehmen schickt Wohnschiffe in Bebenregion

Ein türkisches Unternehmen hat die Entsendung von zwei Wohnschiffen für insgesamt 3000 Menschen in die Erdbebenregion im Süden der Türkei angekündigt. Die Schiffe Suheyla Sultan und Rauf Bey sollten die Hafenstadt Iskenderun in der Provinz Hatay an der Mittelmeerküste anlaufen, teilte die Karadeniz Holding am Samstag mit. Die Schiffe seien für humanitäre Einsätze ausgelegt und besäßen neben jeweils 1500 Wohnplätzen auch medizinische Einrichtungen.

Grenzübergang zu Armenien geöffnet

Zur besseren Versorgung der Überlebenden öffnete die Türkei einen Grenzübergang zu Armenien – trotz einer tiefen Feindschaft zum Nachbarland, berichtete Anadolu Ajansi. Fünf Lastwagen passierten mit humanitärer Hilfe einen Grenzposten in der türkischen Provinz Igdir. Zuletzt sei das 1988 nach einem Beben in der Ex-Sowjetrepublik Armenien möglich gewesen.

"Lassen Sie uns etwas Gutes aus dieser großen Katastrophe herausholen. Solidarität rettet Leben!", twitterte der türkisch-armenische Politiker Garo Paylan. Die Landgrenze zwischen der Türkei und Armenien ist seit 1993 geschlossen. Das Verhältnis zwischen Ankara und Eriwan ist sowohl aus historischen Gründen als auch wegen des Konflikts um die Gebirgsregion Berg-Karabach schwer belastet. Die beiden Nachbarn unterhalten aber seit Ende 2021 wieder diplomatische Kontakte.

Lage in Syrien

In Syrien ist der Hilfseinsatz besonders schwierig. Das Land steckt seit fast zwölf Jahren im Bürgerkrieg. Zur Erdbebenkatastrophenregion zählen Landesteile, die von der Regierung kontrolliert werden, aber auch Rebellengebiete. Am Freitag traf ein erster Hilfskonvoi der Vereinten Nationen im Norden Syriens ein. Am Samstagabend erreichte eine italienische Hilfslieferung Beirut.

Die Hilfe für Erdbebenopfer in den Gebieten muss nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aber noch deutlich ausgeweitet werden. "Wir müssen mit größerer Dringlichkeit und in größerem Umfang handeln und uns besser organisieren", sagte Richard Brennan, der WHO-Nothilfekoordinator für die Region Östliches Mittelmeer am Samstag.

In der syrischen Stadt Aleppo suchen die Menschen nach den zerstörerischen Erdbeben Schutz vor der Kälte. Etliche Familien übernachten bei eisigen Temperaturen auf der Straße oder in Autos im besonders betroffenen Osten der Stadt. Viele warten darauf, dass die Behörden untersuchen, ob ihre beschädigten Häuser noch zu bewohnen sind. Viele Menschen in Aleppo sind nach den schweren Beben auch in Moscheen und Schulen untergekommen. Behörden zufolge mussten in der Stadt Zehntausende ihre Häuser verlassen. Laut UN wurde in der Stadt jedes dritte Haus durch die Erdbeben zerstört. Rettungsteams suchen derzeit weiter nach Verschütteten. Überlebende wurden nach dpa-Informationen in der Stadt schon länger nicht mehr gefunden.

Grenzübergang Bab al-Hawa

Nach Syrien kommen Hilfslieferungen nur stockend, aktuell ist der Grenzübergang Bab al-Hawa der einzige Zugang in die Rebellengebiete. Ärzte ohne Grenzen hob am Freitag dessen Bedeutung hervor. "Bab al-Hawa muss offen bleiben", sagte die logistische Koordinatorin der NGO für Syrien, Karin Puchegger, zur APA. Die 36-jährige Oberösterreicherin sprach von einem "Nadelöhr", das den Hilfsgütertransport in das vom Erdbeben betroffenen Nordsyrien stark verzögere. Zerstörte Straßen, Überflutungen und ein Mangel an Treibstoff erschwerten den Hilfseinsatz für Ärzte ohne Grenzen.

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen will die Hilfsorganisation Jugend Eine Welt ihre Aktivitäten im Krisengebiet verstärken. Wolfgang Wedan, Koordinator der Globalen Nothilfe der Organisation, war Samstagfrüh am Weg in ein Krankenhaus in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Danach war die Besichtigung der stark zerstörten Stadt Aleppo geplant. Ziel sei es, "die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen, um die bestmögliche Hilfe für die notleidenden Menschen auf die Beine zu stellen", so Wedan. In Syrien arbeitet Jugend Eine Welt mit den Salesianern und den Don Bosco Schwestern zusammen. Laut eigenen Aussagen versorgten sie in den vergangenen Tagen in Aleppo hunderte Menschen mit einem Dach über dem Kopf und Nahrungsmitteln.

Berlin plant Visaerleichterungen

Vom Erdbeben betroffene Menschen in der Türkei sollen über ein unbürokratisches Visaverfahren die Möglichkeit erhalten, zeitweise bei Angehörigen in Deutschland unterzukommen. Das teilten das Auswärtige Amt und das deutsche Innenministerium am Samstag in Berlin mit. Die beiden Ministerien bildeten eine Task Force, die noch am Wochenende mit ihrer Arbeit beginnen sollte. (Reuters, APA, 11.2.2023)