Seho Uyan hat die Naturkatastrophe überlebt, aber vier Verwandte verloren.

Foto: REUTERS / SERTAC KAYAR

Gaziantep/Idlib – Sechs Tage nach dem verheerenden Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion sind zwei weitere Bauunternehmer in der Türkei festgenommen worden. Ein Unternehmer, der für die Bauleitung zahlreicher eingestürzter Gebäude in Adiyaman verantwortlich gewesen sein soll, sei mit seiner Ehefrau am Istanbuler Flughafen gefasst worden, meldete die Nachrichtenagentur DHA am Sonntag. Die beiden hätten sich mit einer großen Menge Bargeld nach Georgien absetzen wollen.

Nach offiziellen Angaben ermitteln die Staatsanwaltschaften inzwischen gegen mehr als 130 Menschen, die dafür verantwortlich sein sollen, dass Gebäude eingestürzt sind. Gegen mehr als 100 wurde bereits Haftbefehl erlassen.

Die Opposition sieht auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Verantwortung und wirft ihm vor, es in seiner 20-jährigen Regierungszeit versäumt zu haben, das Land auf ein solches Beben vorzubereiten.

UN: Zahl der Toten könnte auf mehr als 50.000 steigen

Schätzungen der Uno zufolge wird die Zahl der Toten möglicherweise noch auf mehr als 50.000 ansteigen. UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte am Samstag bei einem Besuch im Erdbebengebiet in der Türkei im Sender Sky News, eine genaue Schätzung sei nach wie vor schwierig, die Opferzahl werde sich aber sicherlich noch "verdoppeln oder mehr".

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht mittlerweile davon aus, dass 26 Millionen Menschen in der Türkei und Syrien von der Katastrophe betroffen sein könnten, darunter etwa fünf Millionen Menschen, die ohnehin als besonders schutzbedürftig gelten. Mindestens 870.000 Menschen in beiden Ländern müssen nach Angaben der Uno mit warmen Mahlzeiten versorgt werden, bis zu 5,3 Millionen Menschen könnten allein in Syrien obdachlos geworden sein.

Eine knappe Woche nach den verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Zahl der Toten auf mehr als 30.000 gestiegen. Der türkische Vize-Präsident Fuat Oktay sagte laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in der Nacht auf Sonntag, in der Türkei seien mindestens 29.605 Menschen ums Leben gekommen. Aus Syrien wurden zuletzt 3.575 Tote gemeldet. Knapp 80.300 Verletzte wurden bisher registriert. Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan suchten inzwischen mehr als 1,5 Millionen in Zelten, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften Schutz.

Tausende Menschen an Such- und Rettungseinsätzen beteiligt

Nach Angaben der türkischen Katastrophenbehörde sind mehr als 32.000 Menschen aus der Türkei an Such- und Rettungseinsätzen beteiligt. Hinzu kommen mehr als 8.200 internationale Helfer, darunter Österreich.

"Bald werden die Such- und Rettungskräfte den humanitären Organisationen weichen, deren Aufgabe es ist, sich in den kommenden Monaten um die außerordentliche Zahl an Betroffenen zu kümmern", sagte Griffiths in einem Video auf Twitter.

Weitere Überlebende

Es werden auch weiter Überlebende gefunden: Auf einem von der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi im Kurzbotschaftendienst Twitter verbreiteten Video war zu sehen, wie Helfer in der Nacht auf Samstag eine 13-Jährige in der Großstadt Gaziantep aus den Trümmern retteten. In der Provinz Hatay wurde der Agentur IHA zufolge zur gleichen Zeit ein sieben Monate alter Bub aus den Trümmern geborgen.

Am Samstagabend gelang es Helfern des Technischen Hilfswerks (THW) in der Stadt Kirikhan in Zusammenarbeit mit türkischen Einsatzkräften, eine 88-jährige Verschüttete zu retten. Die Trümmer, unter denen die Frau lag, seien mithilfe eines hydraulischen Spreizers angehoben worden und die Frau daraufhin befreit worden, erklärte das THW. Es sei "ein wunderschönes Gefühl", jemanden nach so langer Zeit lebendig herauszuholen, sagte der am Einsatz beteiligte THW-Notfallsanitäter Bernd Stockhorst.

In Hatay war laut türkischen Medienberichten zuvor auch eine Zweijährige gerettet worden, in der Provinz Kahramanmaras hatten Rettungskräfte eine 70-jährige Frau lebend aus den Trümmern geborgen. Anadolu Ajansi berichtete am Samstag überdies von der Rettung der 35-jährigen Özlem Yilmaz und ihrer sechsjährigen Tochter Hatice aus einem eingestürzten Gebäude in der Provinz Adiyaman. In Antakya sei ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt worden, berichtete der staatliche türkische Fernsehsender TRT.

Die Chancen, noch Überlebende zu bergen, wurden mit fortschreitender Zeit immer geringer. Die türkischen Behörden richteten provisorische Leichenhallen in Parkhäusern, Stadien und Turnhallen ein, wo verzweifelte Familien nach ihren toten Angehörigen suchten.

Menschenrechtler besorgt über mutmaßliche Misshandlungen

Die Türkei-Expertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat sich angesichts von Berichten über mutmaßliche Misshandlungen im Erdbebengebiet besorgt gezeigt. "Es kursieren viele schockierende Bilder von Polizisten und Zivilisten, die solche Personen verprügeln und brutal behandeln, die nach dem Beben Gebäude geplündert haben sollen", schrieb HRW-Vertreterin Emma Sinclair-Webb am Sonntag auf Twitter.

Innen- und Justizministerium hätten die Pflicht, sowohl mutmaßliche Diebe festzunehmen, als auch solche, die Menschen verprügelten. Die Anwaltskammer von Diyarbakir schrieb auf Twitter, Berichte über solche Misshandlungen nähmen besorgniserregende Ausmaße an. Rechtliche Schritte müssten eingeleitet werden.

Karas für unbürokratische Aufnahme von Betroffenen

Der ÖVP-Politiker und Erste Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas, fordert eine internationale, von der EU initiierte Hilfskonferenz für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien. In der "Pressestunde" des ORF sprach sich Karas am Sonntag außerdem für die unbürokratische, zeitlich begrenzte Aufnahme von Betroffenen in Österreich aus. Er rechne mit neuen Fluchtbewegungen aus der Region nach Europa, sollte es nicht zu sofortiger Hilfe kommen.

ORF

Das Erdbeben bezeichnete Karas als "enorme humanitäre Katastrophe mit großem politischen Sprengstoff", die auch Auswirkungen auf Europa haben werde. Er forderte die Abhaltung einer internationalen Hilfskonferenz, um ein "gemeinsames Konzept gegen Hunger, gegen das Erfrieren und gegen den politischen Sprengstoff" zu erarbeiten.

Dem Vorschlag der deutschen Regierung, vom Erdbeben betroffenen Menschen mit "Bezugspersonen in Europa" über ein unbürokratisches Visaverfahren die Möglichkeit zu geben, bei ihren Angehörigen unterzukommen, könne er "viel abgewinnen", sagte der ÖVP-EU-Mandatar auf Nachfrage. Diese Maßnahme sollte allerdings "Teil eines Gesamthilfspakets" sein, betonte Karas. "Das Schlimmste ist es, zuzusehen und auf die anderen zu warten", man müsse helfen wo man könne – finanziell, humanitär und sozial.

Griechenland und Türkei nähern sich diplomatisch an

Nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei gibt es eine vorsichtige Annäherung mit dem Nachbarstaat Griechenland inmitten vieler Konflikte zwischen den beiden Ländern. Der griechische Außenminister Nikos Dendias flog am Sonntag überraschend in das Katastrophengebiet und traf sich mit dem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu. Die beiden Politiker umarmten sich, wie das staatliche griechische Fernsehen zeigte.

Griechenland habe sofort Hilfe geleistet. Dafür bedankte sich Cavusoglu. Die Staaten werden in einem Dialog versuchen, ihre Probleme zu lösen, fügte er hinzu. Politische Beobachter und Kommentatoren der griechischen Presse äußern seit Tagen die Hoffnung, dass die Hilfe, die Griechenland spontan an die Türkei leistete, ein Neustart in den Beziehungen zwischen den Nato-Mitgliedern werden könnte. (APA, red, 12.2.2023)