Die große Hilfsbereitschaft darf über die Missstände in der Türkei nicht hinwegtäuschen, sagt der Soziologe Kenan Dogan Güngör im Gastkommentar.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien hat ein Ausmaß in unvorstellbaren Dimensionen und gehört zu den verheerendsten Erdbebenkatastrophen der Geschichte. Nach offiziellen Angaben sind in der Türkei an die 6500 Wohnblöcke eingestürzt, es dürften aber deutlich mehr sein. Es ist zu befürchten, dass die Zahl der Verstorbenen um das Zigfache nach oben steigen wird. Jeder ein gelebtes / nicht gelebtes Leben.

Die Hilfsbereitschaft in der Türkei und im Ausland ist – egal ob Türkinnen und Türken, Kurdinnen und Kurden, links oder rechts, religiös oder säkular – enorm und berührend zugleich. So kann das Grausamste zugleich das Schönste in uns hervorbringen. Das steht im Kontrast zu der Menschenleben gefährdenden Unverantwortlichkeit der Regierung Recep Tayyip Erdoğans, welche die angekündigte Katastrophe aus Profitgründen, Vetternwirtschaft und Ignoranz seit 20 Jahren wohl billigend in Kauf nahm.

Stark erdbebengefährdet

Spätestens nach dem schweren Erdbeben in Gölcük und Istanbul im Jahr 1999, bei dem bis zu 30.000 (offiziell 17.000) Menschen ums Leben gekommen waren, wusste jeder, wie stark erdbebengefährdet die Türkei ist. Führende Seismologen haben jahrzehntelang auf die hohe Erdbebengefahr im Allgemeinen und in den jetzt betroffenen Regionen hingewiesen. Sie wurden jedoch vom Staat nicht gehört und ignoriert. Alle seriösen Expertinnen und Experten sind sich einig, dass diese menschliche Katastrophe sich hätte minimieren lassen, wenn in diesen 20 Jahren der Erdoğan-Regierung substanziell an der Erdbebensicherheit des Landes gearbeitet worden wäre.

Weiterhin wird nach den Opfern des Erdbebens gesucht. Diese Drohnenaufnahme vom Freitag zeigt die Zerstörungen in der Stadt Kahramanmaraş.
Foto: Der Standard / ABIR SULTAN

Aufgeweichtes Recht

Zwar hatte die AKP-Regierung in den ersten Jahren sehr wichtige und richtige Gesetze zum Erdbebenschutz erlassen, doch im Laufe der Zeit wurden das Baurecht und die Bauaufsicht zugunsten der Bauunternehmen massiv aufgeweicht. So wurde die staatliche Bauaufsicht privatisiert, und die Bauaufsichtsunternehmen wurden nunmehr von den Bauträgern finanziert. Es kam zu der unheilvollen Situation, in der die Aufsichtsorgane von den zu kontrollierenden Bauunternehmen abhängig wurden. Damit wurde Korruption und Vetternwirtschaft offiziell Vorschub geleistet. Man sah über Qualitäts- und Sicherheitsstandards, die nur als kostenerhöhende Hindernisse wahrgenommen wurden, großzügig hinweg. Der Staat vergab zudem milliardenschwere Bauaufträge an parteinahe Günstlinge, fernab aller Transparenz und Unbestechlichkeit. Außerdem wurde die seit mehr als 20 Jahren eingetriebene "Erdbebensteuer" in Höhe von 38,4 Milliarden US-Dollar nicht für den Erdbebenschutz, sondern für den Bau sonstiger Bauprojekte zweckentfremdet. Dies Geld fehlt jetzt. Und in den betroffenen Gebieten gleichen die Städte nun zertrümmerten Geisterstädten.

"Größte Katastrophe in der Geschichte der Türkei."

Hinzu kommt, dass bei der Besetzung aller wichtigen Funktionen nicht etwa die fachliche Kompetenz, sondern bedingungslose Gefolgschaft zur AKP-Regierung entscheidend sind. Gepaart mit der absoluten Machtzentralisierung auf den Präsidenten, ist die Problembewältigungskompetenz des Staates in allen Bereichen massiv eingebrochen. Das zeigt sich nicht nur an der miserablen Katastrophenhilfe der letzten Jahre, seien es sich häufende Berggrubeneinbrüche, Waldbrände oder nun das Erdbeben.

So sticht heraus, dass der Chef des staatlichen Katastrophenschutzes AFAD, İsmail Palakoğlu, als Erdoğan huldigender Theologe keinerlei Erfahrung mit der ihm betrauten Aufgabe vorzuweisen hat. Er hat nun die größte Katastrophe in der Geschichte der Türkei zu bewältigen. Nicht nur, dass er es nicht kann, es verbietet und verhindert auch die AKP-Regierung viele der zivilgesellschaftlichen Initiativen, die hier zu Hilfe gekommen sind. Palakoğlu ist es auch zu verdanken, dass 2000 Fleecejacken, Schals, Mützen und Handschuhe, welche die Menschen dort bitter brauchen, abgelehnt wurden, nur weil sie mit Biermarken versehen waren. Religiöse Engstirnigkeit geht hier vor Menschenleben. Ein grausamer Scherz und Hohn für die Toten und Überlebenden.

Wut wächst

Erdoğan indes fällt in dieser Situation nichts Besseres ein als aus der Zerstörung und dem Wiederaufbau ganzer Regionen ein lukratives Geschäftsmodell zu entwickeln. Oder die ebenfalls vom Erdbeben schwer betroffenen kurdischen Gebiete in Rojava/Nordsyrien zu bombardieren, wie Hilfsorganisationen berichten. Damit keine kritischen Beiträge über seine Verantwortung und das Missmanagement erscheinen, wurde die Bandbreite von Twitter gedrosselt und ein dreimonatiger Ausnahmezustand ausgerufen. Dass gerade über die sozialen Medien viele Menschen hilferufend gerettet werden, scheint ihn dabei nicht zu berühren. Die verzweifelte Wut der Betroffenen wächst, weil sie von der Propaganda "Wir haben alles unter Kontrolle, und allen wird geholfen" nichts oder kaum etwas spüren.

Erdoğan weiß, dass er mit seiner 20-jährigen Allmacht und seiner inkompetenten, korrupten Bürokratie sowie der milliardenschweren Günstlingswirtschaft die politische Verantwortung für diese Katastrophe trägt. Ihn und seine Systemprofiteure treibt die Angst, für die zehntausenden Toten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ob und wie das passieren wird, wird sich zeigen. Fest steht, dass das Erdbeben nicht nur eine Naturkatastrophe ist, sondern auch eine politische! (Kenan Dogan Güngör, 13.2.2023)