Großbritannien sucht nach Nicole Bulley.

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Ihr Mann glaubt nicht, dass sie im Gewässer ertrunken ist.

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Kann ein Mensch spurlos verschwinden, selbst heute noch, im beinahe lückenlos mit Überwachungskameras übersäten Großbritannien? Die Frage beschäftigt die Briten, seit sich vor gut zwei Wochen die Polizei im Nordwesten Englands mit einem Vermisstenfall an die Öffentlichkeit gewandt hat. Inzwischen ist die Suche nach Nicola Bulley zu einem makabren Volkssport ausgeartet, bei dem selbsternannte Detektive und angebliche Hellseherinnen die örtliche Bevölkerung verängstigen und der Sonderkommission die Zeit rauben.

Soweit bisher bekannt, führte Bulley bis zum 27. Jänner ein unauffälliges, im besten Sinne durchschnittliches Leben. An jenem Freitagmorgen brachte die 45-Jährige Hypothekenberaterin ihre beiden Töchter, sechs und neun Jahre alt, zur örtlichen Grundschule im Nachbardorf St. Michael und fuhr mit dem Familienhund Willow weiter zum nahen Fluss Wyre. Sie schrieb ihrem Chef eine Routine-E-Mail, vereinbarte per SMS ein Treffen mit einer Freundin und deren Kindern und nahm ab 9.01 Uhr an einer Firmenkonferenz via Microsoft Teams teil. Kamera und Mikrofon ihres Mobiltelefons blieben ausgeschaltet.

Telefon gefunden

Eine Bekannte sah den freilaufenden Willow und dessen Besitzerin gegen 9.10 Uhr spazieren gehen. 23 Minuten später entdeckte eine andere Spaziergängerin Bulleys Telefon auf einer Bank, der Springer Spaniel lief ziellos durch die Gegend. Die Passantin gab der Schule von Bulleys Kindern Bescheid. Unterdessen hatte Paul Ansell sich über das Ausbleiben seiner Partnerin gewundert und war selbst nach St. Michael gefahren, um nach dem Rechten zu sehen. "Als die Schule anrief und die Umstände schilderte, geriet ich sofort in Panik. Da weiß man, dass etwas Seltsames passiert ist", hat Ansell Ende vergangener Woche in einem Interview dem TV-Sender Channel 5 gesagt.

Zu Protokoll gab der 44-Jährige auch seine "100-prozentige Überzeugung", seine Frau sei nicht in den Fluss gefallen und ertrunken. Mit dieser These hatte die örtliche Kriminalpolizei Anfang des Monats ihren Ermittlungsstand zusammengefasst und versichert, man sei "so sicher, wie das eben sein kann", dass die Vermisste nicht die Gegend verlassen habe. Der Vermisstenfall wurde also quasi offiziell zur Leichensuche reduziert – eine Entscheidung, die nicht nur Bulleys Familie und Freundinnen kritisieren. Bei so einer Aussage müsse man schon 100-prozentig sicher sein, findet etwa der erfahrene Londoner Mordermittler Simon Harding: "Denn man gibt der Öffentlichkeit zu verstehen, dass man an Hinweisen nicht mehr interessiert sei."

Nerv getroffen

Offenbar sind sich auch Kriminaldirektorin Sally Riley und ihre 40-köpfige Sonderkommission mittlerweile unsicher geworden. Jedenfalls wurden inzwischen örtliche Überwachungskameras auch für den Tag vor Bulleys Verschwinden analysiert. Beobachter vor Ort weisen zudem darauf hin, dass einer der drei Zugänge zu dem Spazierweg keine Kamera aufweist.

Ganz gewiss hat der mysteriöse Fall einen Nerv getroffen. Zu Recht reagiert das Land beim Thema Verbrechen gegen Frauen und scheinbarem oder echtem Polizeiversagen hochsensibel – zu frisch ist die Erinnerung an den Sexualmord an einer jungen Londonerin durch einen Polizeibeamten und die Serie von Vergewaltigungen durch einen Angehörigen des bewaffneten Spezialkommandos von Scotland Yard.

Mahnwache

Freilich hat das Geheimnis von St. Michael auch eine Vielzahl von Wichtigtuern, Verschwörungstheoretikern und angeblichen Hellsehern auf den Plan gerufen. Ein selbsternannter Ermittler paranormaler Phänomene machte nachts auf der Suche nach dem möglichen Entführungs- oder gar Mordopfer die Gegend unsicher. Die skandalgierige Öffentlichkeit betrachtete seine Filmchen mehr als eine Million Mal auf Videoplattformen. Der Zirkus wurde so schlimm, dass die Polizei vergangene Woche den Bezirk für 48 Stunden für Auswärtige sperrte.

Am Freitag standen Freundinnen und Familienangehörige stumm an der örtlichen Straße und baten um Mithilfe bei der Suche. Bulleys Freundin Emma White brachte die Motivation auf den Punkt: "Wir wollen Nikki wiederhaben. Die beiden Mädchen brauchen ihre Mami zurück." (Sebastian Borger aus London, 13.2.2023)