Im Gastblog zeigt Politikwissenschafter Constantin Lager, welche Gefahren für demokratische Systeme bestehen – und welche Schritte notwendig sind, um für politische Stabilität zu sorgen.

Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg, die hohe Inflation und nicht zuletzt die bereits heute spürbare Klimakrise – seit Jahren befinden wir uns in einer Situation andauernder Herausforderungen. Eine Situation, in der die Krise nicht mehr länger der unliebsame Ausreißer einer sonst stabilen Normalität ist, sondern selbst zum Dauerzustand wurde. Multiple Krisen und ein Gefühl der Unsicherheit sind der Nährboden für Demagogen und Demagoginnen sowie Autokraten und Autokratinnen. Als Krisenprofiteure versuchen sie die Unsicherheiten in eine Ablehnung demokratischer Normen und Institutionen zu verwandeln. Angesichts des krisenhaften Dauerzustandes sind es die liberale Gesellschaft und die liberale Demokratie, die heute auf dem Prüfstand stehen. Ihre Bedrohungen kommen von innen wie von außen.

Bedrohungen von außen

Schon lange liebäugeln Persönlichkeiten des westlichen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus mit Wladimir Putin und seinem autoritären Führungsstil. Matteo Salvini zeigte sich einst stolz auf dem Roten Platz in Moskau mit einem T-Shirt, das das Porträt Putins auf der Brust zeigte, die ehemalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl verneigte sich bei ihrer Hochzeit devot vor dem Kreml-Chef, und Marine Le Pen ließ nach Kriegsbeginn in der Ukraine hastig Wahlkampfbroschüren vernichten, die sie zusammen mit Putin zeigten.

Archivbild von 2017: Marine Le Pen besuchte den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau.
Foto: AP/Mikhail Klimentyev

Sein autoritärer Führungsstil und seine gezielt antiwoke Rhetorik zum "Schutz" einer "unschuldigen Zivilisation" konnten der europäischen und amerikanischen Rechten eine attraktive Alternative anbieten. Diese wurde nicht nur dankend angenommen, der Kreml finanzierte auch gezielt europäische Rechtspopulisten und Rechtspopulistinnen und beeinflusste über Trollfabriken Wahlentscheidungen. Etwa den US-Wahlkampf zugunsten Donald Trumps oder das Brexit-Votum in Großbritannien, wie Timothy Snyder in "Der Weg in die Unfreiheit" nachzeichnet. Liberale Demokratien und das europäische Projekt sollten so geschwächt werden.

Angriff auf mehreren Ebenen

Spätestens jedoch seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, dem eine imperialistisch- faschistische Ideologie zugrunde liegt, kann die akute autoritäre Gefahr für liberale Gesellschaften nicht mehr geleugnet werden. Der russische Angriff – so wie er von Putin in seinen Reden gerechtfertigt wird – hat nicht bloß eine historische Komponente, in der nach faschistischer Manier eine glorreiche reine Vergangenheit, die es wiederzubeleben gilt, erdichtet wurde, oder eine sicherheitspolitische Komponente, die den Angriff auf die Ukraine als Reaktion auf eine imaginierte Nato-Bedrohung deutet.

Der Krieg in der Ukraine hat auch eine kulturelle Dimension. So sagte Putin in einer bizarren Rede vom 30. September 2022: "They [the West] are moving toward open satanism," und weiter:"We're fighting for historical Russia, to protect our children and grandchildren from this experiment to change their souls." Putins Feldzug ist somit auch ein Feldzug gegen liberale Gesellschaften, Demokratien und ihre universalistischen Werte. Jene kulturelle Dimension des Krieges herauszustreichen sollte jedoch nicht einen Kampf der Kulturen, in dem sich unversöhnliche, starre Blöcke gegenüberstehen und sich lediglich durch Gegensätze auszeichnen, heraufbeschwören. Denn dafür ist einerseits die russische Gesellschaft zu heterogen, und andererseits sind unsere liberalen Gesellschaften in ihrem Inneren selbst zu sehr durch antiwoke und autoritäre Versuchungen gefährdet.

Gefahren von innen

In ihrem Bestseller "Wie Demokratien sterben" argumentieren die Harvard-Professoren Daniel Ziblatt und Steven Levitsky, dass Demokratien meist nicht in einem lauten Knall, einem Putsch, einem gewalttätigen Umsturz untergehen, sondern schleichend zugrunde gehen, bis sie schließlich an der Wahlurne abgewählt werden. Dass die autoritäre Verführung im Inneren unserer liberalen Gesellschaft groß ist, belegt der Demokratiemonitor, der Ende letzten Jahres erschienen ist. Auch wenn mit 57 Prozent die Mehrheit der Befragten als Demokraten und Demokratinnen gelten, sind sechs Prozent der Befragten als Autokratinnen und Autokraten eingestuft. Der Anteil der Befragten mit autoritären Demokratievorstellungen ist in den letzten Jahren auf 37 Prozent gestiegen. Dabei ist ein neuer Typus von Autoritären zu beobachten.

Die libertär Autoritären, wie sie Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem Buch "Gekränkte Freiheit" beschreiben, sehnen sich nicht nach einem starken Führer, sondern nach individueller Freiheit. Einer Freiheit, die über den Bedürfnissen der Solidargemeinschaft steht. Daneben gibt es jedoch noch eine größere Gruppe mit klassisch autoritären Einstellungen, wie etwa das Verlangen nach mehr Law and Order oder einer charismatischen Führungsfigur. 26 Prozent der Befragten in Österreich sehnen sich demnach nach einem starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss, das ist etwas mehr als in den letzten Jahren. Das wirklich Bedenkliche ist jedoch, dass nicht mehr länger die Mehrheit der Befragten (46 Prozent) diese Aussage zur Gänze ablehnt.

Verrohung der politischen Kultur

Die steigende Zahl an autoritären Einstellungen ist einerseits einem Misstrauen in demokratisch gewählten Vertretungsorganen geschuldet, wie aus dem Demokratiemonitor zu entnehmen ist. Andererseits besteht wohl auch ein Zusammenhang mit einer politischen Kultur und Rhetorik, die zunehmend verroht ist und zumal auch ganz offen Grund- und Menschenrechte als Grundlage liberaler Gesellschaften oder gar demokratische Institutionen infrage stellt.

So stellte Herbert Kickl in seiner Funktion als Innenminister fest: "Das Recht muss Politik folgen, nicht Politik dem Recht." Der fehlende Applaus der FPÖ-Fraktion bei der Angelobungsrede Alexander Van der Bellens zum Bundespräsidenten, der zu Recht die Unantastbarkeit von Grund- und Menschenrechten und den Respekt vor der liberalen Demokratie einmahnte, ist bezeichnend für eine höchst bedenkliche politische Kultur. Auch aus den Reihen konservativer Kräfte sind ähnlich bedrohliche Töne zu hören. So schrieb der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz in seinem Buch spöttisch, er hätte "das Parlament als einen Ort mit sehr viel negativer Energie erlebt". Den Rechtsruck in der Rhetorik, aber auch in der konkreten Politikgestaltung konservativer Bewegungen nennt Natascha Strobl "radikalisierten Konservatismus", bei dem unter bürgerlicher Etikette autoritäres Verlangen schlummert. Der radikalisierte Konservatismus bürgerlicher staatstragender Parteien hat dazu beigetragen, dass menschenverachtende und antidemokratische Einstellungen und Aussagen heute als weniger skandalös, sondern vielmehr als eine "legitime" Meinung unter vielen betrachtet werden.

Resilienz der liberalen Demokratie

Liberale Gesellschaften und liberale Demokratien sind heute von innen wie von außen einem Stresstest unterzogen und gezwungen, im Angesicht autoritärer Verführungen Widerstandsfähigkeit zu zeigen. Mehrere Punkte sind dabei zu beachten.

In der Festschrift rund um die Gesprächsreihe "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie", ausgerichtet von dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, schreibt Daniel Ziblatt, dass geringe politische Polarisierung und hohe staatliche Kapazität die Widerstandsfähigkeit von Demokratien fördern. Eine hochgradig polarisierte Gesellschaft, in der Gegensätze nicht länger verhandelt und diskutiert werden können und das Gegenüber als existenzbedrohender Feind gesehen wird, ist eine große Gefahr für eine liberale Gesellschaft, die von der friedlichen Aussöhnung der Gegensätze lebt.

Die Bedeutung starker Institutionen hat uns der Sturm auf das US-Kapitol im Jänner 2021 verdeutlicht, als am selben Abend nach dem gewalttätigen Ansturm die Abgeordneten in das Kapitol zurückkehrten und den demokratisch gewählten Präsidenten Joe Biden im Amt bestätigten. Wäre dies nicht passiert, wäre wohl ein Vakuum entstanden, in dem extremistische Kräfte einen kaum abzuschätzenden Auftrieb erfahren hätten. Neben der großen Bedeutung von demokratischen Institutionen argumentiert Sheri Bermann in einem Artikel in "Foreign Affairs", dass es das Hochhalten demokratischer Normen bedarf, um Demokratien zu schützen. In welches Fahrwasser wir geraten, wenn diese Normen nicht eingehalten, nicht gelebt werden, habe ich bereits mit einem Verweis auf den "radikalisierten Konservatismus" und seine rhetorische Verrohung beschrieben.

Eine weitere Grundkonstante für eine resiliente Demokratie sind freie Medien. Angesichts äußerer Einmischungen durch Trollfabriken in Wahlentscheidungen oder um das europäische Projekt zu gefährden, muss es eine starke, unabhängige und ausreichend finanzierte Medienlandschaft geben, die diesem Informationswirrwarr Paroli bieten kann.

Solidarität über Grenzen hinweg

Nicht zuletzt benötigt eine resiliente Demokratie Solidarität. Solidarität im Sinne eines funktionierenden Sozialstaates, der auch in schwierigen Zeiten seine Bürgerinnen und Bürger unterstützt. Solidarität aber auch im Sinne eines antifaschistischen Schulterschlusses nach innen wie nach außen. Das bedeutet, dass es in der Politik einen antifaschistischen Grundkonsens über Parteigrenzen hinweg geben muss, der Koalitionsbildungen mit autoritären Kräften ausschließt. Demokratische Parteien müssen eine Wächterrolle übernehmen und nicht in Momenten politischer Schwäche mit Demagogen und Demagoginnen oder aufstrebenden Autokraten und Autokratinnen paktieren, sie so in hohe Ämter heben und ihnen somit Legitimität verschaffen, wie Ziblatt und Levitsky in "Wie Demokratien sterben" argumentieren.

Im Hinblick auf eine der drängendsten Gefahren für liberale Gesellschaften, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, bedeutet Solidarität aber auch, den Abwehrkampf der Ukraine mit den nötigen Mitteln zu unterstützen. Ein solidarischer Schulterschluss auf europäischer Ebene bedeutet, jene finanziellen Ressourcen wie auch entsprechendes Kriegsgerät zur Verfügung zu stellen, damit die Ukraine erfolgreich die faschistische Bedrohung durch Putins Angriffskrieg abwehren kann. Ein geschlossenes und beherztes Auftreten angesichts autoritärer Bedrohungen muss Demagogen und Demagoginnen sowie autoritären Machthabern und Machthaberinnen zeigen, dass die liberale Demokratie durchaus wehrhaft ist. (Constantin Lager, 13.2.2023)