Ein Orgasmus soll gegen Regelschmerzen helfen – dieses Hausmittel wird schon seit Jahrzehnten propagiert. Aber kann das wirklich funktionieren?

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"Der erste Tag ist immer die Hölle", sagt Marlen Kopp (Name geändert). "Da kann ich eigentlich nur im Bett bleiben." Ihr Unterleib krampft sich zusammen, der untere Rücken schmerzt, oft bekommt sie Durchfall. Kopp ist 30 Jahre alt und arbeitet als Erzieherin in einer Kinderkrippe. Wenn es möglich ist, bleibt sie an solchen Tagen mit Wärmflasche im Bett. Seit kurzem ist ein weiteres Therapeutikum dazugekommen: Selbstbefriedigung. Den Tipp gab ihr die Mutter einer Freundin.

Dysmenorrhoe nennt die Medizin solch starke Regelschmerzen, ein Phänomen, von dem Studien zufolge 70 bis 93 Prozent der menstruierenden Frauen berichten. Jüngere Frauen sind davon häufiger betroffen, berichtet das "Journal of Clinical Research in Pediatric Endocrinology". Bei jeder zehnten Frau sind die Beschwerden so stark, dass sie ihren normalen Alltag nicht bewältigen kann. Manche lassen sich dann krankschreiben. Auch in der Schule sind viele Mädchen in ihrer Leistung eingeschränkt.

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DER STANDARD

"Verursacht werden Periodenschmerzen unter anderem durch die Kontraktionen der Gebärmutter", sagt die Hamburger Gynäkologin Anneliese Schwenkhagen. Durch das Zusammenziehen stößt die Gebärmutter die nicht mehr durchblutete Schleimhaut ab, die sich für eine mögliche Schwangerschaft in ihrem Inneren gebildet hat. Die Intensität der Kontraktionen wird durch Botenstoffe wie Prostaglandine und Leukotriene gesteuert. "Beim Absterben der Schleimhaut handelt es sich außerdem um einen entzündlichen Prozess", sagt Schwenkhagen: "Hierdurch werden Botenstoffe freigesetzt, die Schmerzfasern reizen und das tut weh."

Hormonelles Ungleichgewicht oder Erkrankung

Dass die Schmerzen bei manchen Frauen so stark und bei anderen kaum der Rede wert sind, hat mehrere Gründe. "Bei sehr jungen Frauen kann die Ursache ein hormonelles Ungleichgewicht sein", erklärt Schwenkhagen. In den ersten ein bis zwei Jahren nach Einsetzen der Regelblutung sei es beispielsweise nicht ungewöhnlich, dass der Eisprung manchmal ausbleibt. Das wiederum könne zu einem Überschuss an Östrogen und einem Mangel an Gelbkörperhormonen führen. Ersteres ist unter anderem für den Aufbau der Gebärmutterschleimhaut verantwortlich, Letzteres wirkt diesem entgegen. Die Schleimhaut wird also hoch aufgebaut und blutet dann unkontrolliert ab. Die Folge sind unregelmäßige, sehr starke und oft schmerzhafte Blutungen.

Mit der Zeit werden die Beschwerden meist besser. "Allerdings können Regelschmerzen auch auf schwerwiegende Erkrankungen wie eine Endometriose oder eine Adenomyose hinweisen", so Schwenkhagen. Dabei siedelt sich die Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutter etwa in der Bauchhöhle, auf dem Darm oder am Eierstock an. Schmerzmittel und hormonelle Verhütung können die Beschwerden lindern. "Auf die Anwendung der Pille wollen Frauen jedoch zunehmend verzichten. Die Einnahme sehen sie als Eingriff in die natürlichen Prozesse des Körpers", sagt Schwenkhagen. Der Umsatz der Verhütungspillen geht dementsprechend seit 2015 kontinuierlich zurück.

Marlen Kopp nimmt die Pille nicht, auf Schmerzmittel will sie möglichst verzichten. So lange, bis es wirklich nicht anders geht. "Meinen Körper Monat für Monat mit Schmerzmitteln zu beruhigen fühlt sich nicht richtig an", sagt sie. Die Idee mit dem Masturbieren kam ihr da gerade recht: "Ausprobieren schadet ja nicht."

Ernüchternde Studienlage

Ein Blick in die Studienlandschaft bringt allerdings Ernüchterung. Bei Pub Med, der weltweit größten Onlineforschungsdatenbank im Bereich der Lebenswissenschaften, finden sich zu dem Thema kaum Untersuchungen. Dabei ist die Idee mindestens seit den Sechzigerjahren bekannt. Um das menschliche Intimleben genauer zu erforschen, ließen damals der Gynäkologe William Howell Masters und die Sexualforscherin Virginia Johnson Paare vor der Kamera miteinander schlafen, maßen die Länge ihrer Orgasmen und befragten zahlreiche Personen zu ihrem Sexualleben. Dabei erfuhren sie unter anderem, dass insgesamt 43 Probandinnen Selbstbefriedigung als Mittel gegen Regelschmerzen nutzten.

Bei einer Umfrage gut 40 Jahre später unter 1.900 US-Amerikanerinnen berichteten ebenfalls neun Prozent, in den vergangenen drei Monaten masturbiert zu haben, um ihre Periodenschmerzen zu lindern. Warum das so ist und ob es tatsächlich hilft, wurde bisher allerdings nicht erforscht.

Diese Lücke wollten die Unternehmen Womanizer und The Female Company schließen – nicht ganz uneigennützig, muss man sagen, denn Womanizer stellt Vibratoren her. Die Studie, die dabei herauskam, kann also nicht als unabhängige Forschung gelten. Aber sie bietet zumindest Anhaltspunkte zu einer Frage, zu der unabhängige Studien bislang eben fehlen. Ein häufiges Problem, das auch die Firma Womanizer kritisiert: Erkrankungen, die nur oder vor allem Frauen betreffen, würden in der Wissenschaft grundsätzlich zu wenig untersucht.

Einfluss auf die Schmerzen

Um den Effekt von Masturbation auf Periodenschmerzen zu messen, rekrutierte die Firma betroffene Freiwillige. Die 486 Probandinnen erhielten einen Vibrator und sollten drei Monate lang auf Wärmflasche und Schmerzmittel verzichten und sich stattdessen selbst befriedigen. Ob sie dafür ihre Hände oder das Sextoy benutzten, konnten sie selbst entscheiden. Die Intensität und Häufigkeit ihrer Periodenschmerzen dokumentierten sie in einem Fragebogen. Und tatsächlich: 70 Prozent der Frauen berichteten, dass regelmäßiges Masturbieren die Intensität ihrer Schmerzen beeinflusste. Bei den meisten von ihnen ließen sie "etwas" nach – bei jeder Dritten gingen die Schmerzen sogar "sehr stark" zurück. Die Häufigkeit der Schmerzen nahm bei 64 Prozent ab. Gut 42 Prozent meinten, die Masturbation wirke sogar besser als ein Schmerzmittel.

Eine mögliche Erklärung dafür liefert die Züricher Sexualwissenschafterin Andrea Burri, die an der Womanizer-Studie beteiligt war. Sie hat 2019 das Institute for Sex Counselling and Sexual Sciences gegründet. Den Effekt erklärt sich Burri so: "Beim Masturbieren, besonders in Verbindung mit einem Orgasmus, ziehen sich die Muskeln im Unterleib abwechselnd zusammen und entspannen sich." Das könne schmerzhafte Krämpfe lösen. Nach dem Orgasmus schütte der Körper außerdem eine Reihe von Hormonen aus, darunter Endorphine. "Sie haben einen direkten Einfluss auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Schmerz und wirken damit den Prostaglandinen entgegen", sagt Burri. Oxytocin reduziere zudem das Stresshormon Cortisol und fördere die innere Ausgeglichenheit. "Körperliche Beschwerden treten dadurch in den Hintergrund", meint die Wissenschafterin. Auch die Durchblutung werde während der Erregung und dem Orgasmus angeregt. Das wirke entspannend und könne Schmerzen lindern. Wichtig: All das sind bisher Vermutungen, beweisen kann Burri die Zusammenhänge nicht.

"Selbstbefriedigung und Orgasmus können das Wohlbefinden steigern", bestätigt die Gynäkologin Schwenkhagen, die an der Studie nicht beteiligt war. Sie hält auch Burris Erklärungsansatz für schlüssig, abgesehen von dem Teil zur Durchblutung. Statt einem Entspannungseffekt vermutet Schwenkhagen eher, dass die stärkere Durchblutung nach dem Orgasmus dazu beiträgt, schmerzauslösende Botenstoffe schneller aus dem Körper abzutransportieren. Aber auch das, sagt Schwenkhagen, sei nur eine Hypothese.

Keine handfesten Beweise

Einen handfesten Beweis dafür, dass Masturbieren gegen Dysmenorrhoe helfe, liefert die Womanizer-Studie jedenfalls nicht. Denn selbst wenn man das wirtschaftliche Interesse der Firma einmal ausklammert, zeigt sie methodische Mängel: "Die Frauen haben nicht nur während ihrer Periodenschmerzen masturbiert, sondern über den ganzen Monat verteilt", kritisiert Schwenkhagen. Statt einen gezielten Effekt nachzuweisen, zeichne die Untersuchung daher mehr ein Stimmungsbild. "An der Studie nahmen außerdem nur Frauen mit leichten bis mittelschweren Regelschmerzen teil." Frauen mit sehr starken Beschwerden wurden gar nicht erst untersucht. Ein besonders wichtiger Kritikpunkt: Es gab keine Kontrollgruppe, wie es eigentlich zum wissenschaftlichen Standard gehört. "Schon ein Gespräch oder die Teilnahme an einer Studie ist eine Intervention, und jede Intervention hat einen Effekt", sagt Schwenkhagen. Tatsächlich wurde die Studie in keinem Fachjournal publiziert.

Auch Christian Albring, Gynäkologe in Hamburg, ist skeptisch: "Die Frage, ob Selbstbefriedigung gegen Periodenschmerzen hilft, kann nicht generell beantwortet werden", sagt er. Zwar kann sich auch Albring vorstellen, dass die Schmerzen bei manchen Frauen nach einem Orgasmus geringer werden oder eine Zeit lang verschwinden. Wie lange dieser Effekt anhält, lasse sich aber nicht sagen. Und Frauen mit sehr schweren Menstruationsschmerzen würde es wahrscheinlich ohnehin gar nicht einfallen, sich währenddessen selbst zu befriedigen.

Bei Lust probieren

Was das Masturbieren betrifft, hält Schwenkhagen sich deshalb mit Empfehlungen zurück. Wer es probieren will, solle dies tun – wenn es hilft, umso besser. Wichtig sei jedoch, dass Frauen ihre Periodenschmerzen ernst nehmen und mit ihrer Frauenärztin oder ihrem Frauenarzt abklären. "Hinter starken Beschwerden können sich immer auch Erkrankungen wie die Endometriose verstecken, und die müssen behandelt werden", betont die Gynäkologin. "Nicht nur wegen der Schmerzen, sondern auch, um eine Unfruchtbarkeit zu vermeiden."

Bei Marlen Kopp wurde eine Endometriose bislang ausgeschlossen. Das Ergebnis ihres ersten Selbstversuches war dann auch ein voller Erfolg. Am ersten Tag ihrer Periode verzog sie sich ins Bett und befriedigte sich selbst. "Die Schmerzen waren danach tatsächlich deutlich besser", berichtet sie. Die Ibuprofen hat sie nicht gebraucht. Einen Vibrator ebenfalls nicht.

Die Euphorie hielt jedoch nicht lange an. Einen Monat später waren die Schmerzen zurück, da konnte die Selbstbefriedigung nicht helfen. Auch bei der darauffolgenden Menstruation blieb der Erfolg aus. Marlen Kopp nimmt nun wieder Schmerztabletten. (Stella Marie Hombach, 14.2.2023)