In der Ukraine und international anerkannt: Präsident Wolodymyr Selenskyj.

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Dass der von Wladimir Putin entfesselte Angriffskrieg gegen die Ukraine als seine größte Fehlentscheidung mit tragischen Folgen auch für das russische Volk gilt, wird ein Jahr nach dem schicksalhaften 24. Februar von allen unabhängigen Beobachtern bestätigt. Der Harvard-Professor Serhii Plokhy hebt in der Neuauflage seines Standardwerks zur Geschichte der Ukraine (Hoffman und Campe, 2022) hervor:

"Die Hoffnungen, bei der Invasion auf die Unterstützung ethnischer Russen und russischsprachiger Ukrainer im Land bauen zu können, wurden vom entschiedenen Widerstand der Ukrainer zunichtegemacht. Obwohl Russen 17 Prozent der ukrainischen Bevölkerung ausmachen, betrachteten sich laut Umfragedaten nur fünf Prozent der Befragten als ausschließlich russisch. Die Übrigen identifizieren sich als gleichermaßen russisch wie ukrainisch." Plokhy betonte schon vor den massiven russischen Raketenangriffen gegen die Zivilbevölkerung, dass die russische Taktik nicht aufgegangen sei, die Ukrainer entlang sprachlicher, regionaler und ethnischer Linien zu spalten.

Zum Staatsmann geworden

Das Symbol dieser durch den russischen Angriff beschleunigt entstandenen eigenständigen Staatsbürgernation, einer Willensgemeinschaft ohne Rücksicht auf sprachliche oder ethnische Grenzen, ist der seit April 2019 amtierende 45-jährige Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj.

Der Komiker und Unternehmer mit abgeschlossenem Jurastudium, aus einer jüdischen Professorenfamilie mit russischer Muttersprache, erwies sich im Verteidigungskrieg als ein Glücksfall für den ums Überleben kämpfenden Staat. Der kleingewachsene Mann mit Stoppelbart, stets in olivgrüner Militärkleidung, ist in diesem Jahr zum Staatsmann und weltweit wirkenden Kommunikator geworden.

"Emotionale Kraft und geschichtliche Symbolik"

Seine jüngsten Blitzreisen nach London, Paris und Brüssel, seine Reden vor dem britischen Unter- und Oberhaus, vor dem Europaparlament und vor den 27 Staats- und Regierungschefs mit großer emotionaler Kraft und geschichtlicher Symbolik bestätigen den Eindruck, dass er selbst zu einer Hauptfigur der Geschichte wurde. Der Beitrag des Präsidenten zum nationalen Überlebenskampf wird von fast 90 Prozent der Ukrainer und Ukrainerinnen laut den Meinungsumfragen anerkannt.

Vor dem russischen Angriff war die Bilanz des mit einer Mehrheit von 73 Prozent gewählten Staatschefs und seiner neuen Partei "Diener des Volkes" hinsichtlich der Korruptionsbekämpfung und wegen umstrittener Personalentscheidungen enttäuschend. Was aber Selenskyj seit dem 24. Februar getan hat und was im Krieg in Kiew passierte, bestätigt die Feststellung des Philosophen Isaiah Berlin (1909–1997) über die Rolle der Persönlichkeit: "In entscheidenden Augenblicken, an Wendepunkten kann der Zufall, können Individuen mit ihren Entscheidungen und Handlungen, die ihrerseits nicht unbedingt vorhersehbar sind, den Lauf der Geschichte bestimmen. Unser Entscheidungsspielraum ist nicht groß. Sagen wir ein Prozent. Aber auf dieses eine Prozent kommt es an."

Zugleich wird die Zukunft der Ukraine zu 99 Prozent doch von der Widerstandskraft der Nation und von der Rüstungs- und Finanzhilfe der Mitgliedsstaaten der Nato und der EU abhängen. (Paul Lendvai, 13.2.2023)