Durch das Beben wurden rund 200.000 Menschen im syrischen Aleppo obdachlos.

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Gaziantep/Idlib – Mehr als eine Woche nach denm verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Hoffnung gering, weitere Überlebende zu finden. "Die Rettungsphase, in der Menschen lebend aus den Trümmern gezogen (....) werden, neigt sich dem Ende zu", sagte Uno-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Montag in Aleppo. Zur Verbesserung der humanitären Hilfe in schwer zugänglichen Erdbebengebieten Syriens will Präsident Bashar al-Assad zwei weitere Grenzübergänge zur Türkei öffnen.

Bab Al-Salam und Al Ra'ee sollten für drei Monate geöffnet werden, berichtete Griffiths dem Uno-Sicherheitsrat am Montag mehreren Diplomaten zufolge. Bisher konnten die Vereinten Nationen nur über einen Grenzübergang (Bab al-Hawa) Hilfe in Gebiete liefern, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Der Nordwesten Syriens wird von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert.

Guterres begrüßt Assads Entscheidung

Uno-Generalsekretär António Guterres begrüßte die Entscheidung Assads: "Die Öffnung dieser Grenzübergänge – zusammen mit der Erleichterung des humanitären Zugangs, der Beschleunigung der Visagenehmigungen und der Erleichterung des Reisens zwischen den Drehkreuzen – wird es ermöglichen, dass mehr Hilfe schneller eintrifft."

Der syrische Machthaber hofft auf internationale Hilfe beim Wiederaufbau des Landes. "Das Leid der Menschen ist unbeschreiblich", berichtete der Koordinator für Humanitäre Hilfe von Hilfswerk International, Heinz Wegerer, am Dienstag in Wien über die Situation im Krisengebiet. Er kehrte erst am Montag aus der Türkei nach Österreich zurück. "Der Leichengeruch wird immer stärker", sagte der Nothelfer.

Caritas: Defizite in Koordination

Die österreichische Organisation Hilfswerk International leistet in der schwer betroffenen Provinz Hatay Nothilfe. "Was ich dort gesehen habe, was ich dort miterlebt habe, ist schwer oder gar nicht in Worte zu fassen", berichtete er betroffen. Die verzweifelte Situation der Bevölkerung im Erdbebengebiet gehe ihm sehr nahe. In Iskenderun gibt es beispielsweise "vier parallele Straßenzüge, wo links und rechts sämtliche Gebäude zerstört sind", erzählte Wegerer. Nach wie vor liegen zahlreiche Vermisste unter den Trümmern, "vor den zerstörten Gebäuden sitzen Menschen und harren seit vergangenem Montag aus, sie hoffen auf ein Wunder", sagte er.

Schelle und unkomplizierte Hilfe sei nun dringend notwendig. In den ersten Tagen musste vor allem die lokale Bevölkerung den Großteil der humanitären Hilfe leisten. Bis zu 50 Hilfswerk-Mitarbeiter sollen die Hilfe vor Ort unterstützen. Wegerer berichtete auch von Problemen bei der Nothilfe. Die staatliche Katastrophenschutzbehörde Afad "ist mit der Koordination offensichtlich überfordert".

Schlimmste Naturkatastrophe seit einem Jahrhundert

Das Uno-Kinderhilfswerk Unicef warnte unterdessen vor der katastrophalen Lage für Millionen Kinder, die dringend humanitäre Hilfe brauchen. Die Gesamtzahl der betroffenen Buben und Mädchen bleibe unklar, jedoch leben laut Unicef in den zehn von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei 4,6 Millionen Kinder. In Syrien sind mehr als 2,5 Millionen Kinder betroffen.

Mehr als eine Woche nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei sind die Familienangehörigen von rund 1.000 Kindern noch nicht ermittelt worden. Familienministerin Derya Yanik sagte am Dienstag, 792 der Kinder würden im Krankenhaus behandelt, 201 seien in der Obhut des Ministeriums. Erst 369 hätten bisher ihren Familien zugeordnet und übergeben werden können.

Auch das Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation WHO hat zu umfassender Hilfe für die vielen Erdbebenopfer aufgerufen. Der Bedarf sei riesig und wachse mit jeder Stunde, sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge. Rund 26 Millionen Menschen in beiden Ländern bräuchten humanitäre Unterstützung. "Wir erleben die schlimmste Naturkatastrophe in der WHO-Region Europa seit einem Jahrhundert", sagte Kluge

80.000 Verletzte und tausende Vermisste

Die Zahl der bestätigten Toten lag am Dienstag bei mehr als 40.000. Alleine in der Türkei liege die Zahl bei 35.418, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Dienstag der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi zufolge. Aus Syrien wurden zuletzt 5.900 Tote gemeldet.

Tausende werden weiter vermisst. Helfer bargen noch am Montag einzelne lebende Verschüttete. Doch es gab weiterhin auch kleine Hoffnungsschimmer: Acht Tage nach dem verheerenden Erdbeben gibt es Medienberichte über drei Bergungen lebender Menschen aus den Trümmern. In der Provinz Kahramanmaras hätten Helfer am Dienstagmorgen zwei 17 bzw. 21 Jahre alte Brüder gerettet, berichteten die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu und der Sender CNN Türk.

Sie lagen demnach 198 Stunden unter den Trümmern. In der Provinz Adiyaman wurde demnach ein 18-Jähriger, der ebenfalls 198 Stunden verschüttet war, gerettet. In der Provinz Hatay wurde Anadolu zufolge eine 26 Jahre alte Frau sogar nach 201 Stunden unter den Trümmern lebend gerettet. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben zunächst nicht.

Überlebende, die jetzt noch gefunden werden, müssen Zugang zu Flüssigkeit gehabt haben – etwa zu Regenwasser, Schnee oder anderen Quellen. Normalerweise kann ein Mensch etwa 72 Stunden, also drei Tage, ohne Wasser auskommen, danach wird es lebensbedrohlich.

Gebäude und Infrastruktur zerstört

Unzählige Gebäude und Teile der Infrastruktur wurden zerstört. Ein Bericht des türkischen Unternehmens- und Geschäftsverbands Türkonfed schätzt den Schaden nach den Beben auf etwa 84 Milliarden Dollar (rund 79 Milliarden Euro).

Die schweren Beben haben dabei nach Daten von Satelliten womöglich auch langfristige geologische Folgen. "In der Küstenstadt Iskenderun scheint es erhebliche Absenkungen gegeben zu haben, die zu Überschwemmungen geführt haben, während das Beben viele Hügel im ganzen Land einem ernsthaften Erdrutschrisiko ausgesetzt hat", hieß es von der europäischen Raumfahrtagentur Esa. Der Sender NTV hatte in der vergangenen Woche berichtet, dass Gebäude in der türkischen Küstenstadt wegen überfluteter Straßen evakuiert werden mussten.

Am frühen Morgen des 6. Februar hatte das erste Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert, Stunden später folgte ein zweites Beben der Stärke 7,6. Seitdem gab es mehr als 2.400 Nachbeben. In der Türkei sind zehn Provinzen betroffen – dort gilt inzwischen ein dreimonatiger Ausnahmezustand. Mehr als hunderttausend Freiwillige reisten in die Erdbebenregion, um zu helfen. Einige von ihnen kehrten mittlerweile in ihre Heimat zurück. (APA, red, 14.2.2023)