Am 5. September 2017 sollte die 55-jährige Journalistin Gauri Lankesh zum letzten Mal aus der Redaktion nach Hause kommen. Sie hatte an ihrem Leitartikel mit dem Titel "Im Zeitalter der Fake News" gearbeitet. In dem Text erklärte Lankesh, wie "Lügenfabriken" – Websites, die Gerüchte und Halbwahrheiten veröffentlichen – in Indien Desinformationen verbreiten. Auch sie selbst war eine prominente Zielscheibe für digitale Hasskampagnen geworden. Zu sehr störte ihre kritische Haltung gegenüber dem Establishment – vor allem auch gegenüber dem indischen Premier Narendra Modi und der Ideologie seiner Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP).

Vor Gauri Lankeshs Haus lauerten ihre beiden Mörder. Sie schossen viermal, die Journalistin war sofort tot. Die Täter flüchteten unerkannt auf einem Motorrad.

Eine Mahnwache einen Tag nach dem Tod der indischen Journalistin Gauri Lankesh.
Foto: imago/Hindustan Times

Die Ermordung der bekannten Journalistin und Aktivistin löste in ganz Indien Schockwellen aus. Hunderte von Trauernden nahmen an ihrer Beerdigung teil, trugen Schilder mit der Aufschrift "Ich bin Gauri". Die Polizei verhaftete 17 Personen, sie standen mit der Hindu-nationalistischen Sekte Sanatan Sanstha und anderen religiösen Randgruppen in Verbindung. Polizeiquellen zufolge planten sie das Attentat über ein Jahr lang, beschafften Waffen, bildeten Auftragskiller aus und beobachteten Lankeshs tägliche Routinen. Derzeit läuft in Bangalore ein Gerichtsverfahren gegen die Gruppierung, die für den Mord an drei weiteren Aktivisten verantwortlich sein soll.

Anhand des Falls von Lankesh wird sichtbar, wie tödlich sich Hass im Netz und Desinformation auswirken können. Die Recherchen der Investigativredaktion "Forbidden Stories" macht deutlich, welche Rolle ein Youtube-Video mit manipulativ zusammengeschnittenen Ausschnitten einer Rede von Lankesh aus dem Jahr 2012 gespielt hat. Es wurde in sozialen Medien verbreitet und später als "Rechtfertigung" für ihren Mord genutzt.

Eine unbequeme Journalistin

Gauri Lankesh begann ihre Karriere in Delhi, wo sie für die "Times of India" oder "ETV Telugu" arbeitete. Im Jahr 2000 kehrte sie nach dem Tod ihres Vaters nach Bangalore zurück, um sein dort legendäres Aufdeckermagazin "Lankesh Patrike" zu übernehmen. Ab da veränderte sich ihre Art des Journalismus.

Gauri Lankesh begleitete den Aufstieg der Hindu-Nationalisten in Indien kritisch.
Foto: imago/Hindustan Times

Im Jahr 2005 gründete Lankesh eine eigene Wochenzeitung und nannte sie "Gauri Lankesh Patrike". In Leitartikeln und Reportagen aus entlegenen Regionen Karnatakas, des Bundesstaats, dessen Hauptstadt Bangalore ist, nahm das Magazin Machthaber aufs Korn und begleitete den Aufstieg der Hindu-Nationalisten kritisch. Die Zeitung untersuchte den illegalen Bergbau in Nordkarnataka, lokale Korruption und religiöse Polarisierung. Lankesh, die sich selbst als Journalistin und Aktivistin bezeichnete, sah den Kampf gegen die von der BJP verbreiteten Fake News als Teil eines größeren Kampfes gegen den indischen Rechtsextremismus.

Ein rechtes Medien-Ökosystem

Einer der größten Akteure im rechten Medien-Ökosystem Indiens, so Journalisten und Experten, ist bis heute "Postcard News" mit Sitz in Bangalore. Die Fake-News-Internetseite wird von Mahesh Vikram Hegde betrieben – einem Hindu-Influencer, der sich damit rühmt, dass er eine "zentrale Rolle" in Narendra Modis Wiederwahlkampagne 2019 gespielt habe und der Premierminister selbst ihm auf Twitter folge. In den Jahren nach Lankeshs Tod verbreitete die Website unablässig irreführende Informationen über die Mordermittlungen und versuchte die Schuld auf linke Gruppen zu lenken und somit weg von den Hindu-Nationalisten, die mit dem Mord in Verbindung gebracht werden.

Narendra Modis BJP wird mit der Fake-News-Internetseite "Postcard News" in Verbindung gebracht.
Foto: APA/AFP/MANJUNATH KIRAN

"Forbidden Stories" fand heraus, dass Hegde in den Jahren nach der Ermordung Lankeshs der BJP immer näher rückte und ein Unternehmen mitbegründete, das zahlreiche Anknüpfungspunkte zur BJP hat. Die PR-Firma Wise Index Media wurde offenbar zur Mittelbeschaffung für die BJP genutzt. Im September 2022 rief Hegde in einer Reihe von Social-Media-Posts Tempel zu Spenden auf, um Modis Geburtstag zu feiern. Einige dieser Tempel stellten Schecks an "Wise Index Media" aus. Im März 2018 wurde Hegde wegen der Verbreitung von Desinformation festgenommen, sein damaliger Anwalt Tejasvi Surya ist heute prominentes Mitglied der BJP und Leiter des Jugendflügels der Partei.

Organisationen wie "Postcard News", so Fachleute, werden in der Regel auf Abstand gehalten. Das ermöglicht der BJP eine plausible Distanzierung, wenn sie bestimmte Grenzen überschreiten, wie zum Beispiel die Verwendung gewalttätiger oder extremer Sprache.

Ein Opfer der Desinformation

Während des Gerichtsverfahrens gegen die mutmaßlichen Lankesh-Attentäter kamen viele Details über den Monate im Vorhinein geplanten Mord zutage. Das populäre Narrativ, Lankesh sei antihinduistisch gewesen, habe eine Schlüsselrolle bei ihrer Ermordung gespielt, sagte ein mit dem Fall vertrauter Journalist, der anonym bleiben wollte. "Sie beschlossen, Gauri ins Visier zu nehmen, weil sie so wahrgenommen wurde", so der Journalist zu "Forbidden Stories".

Eine zentrale Rolle spielt ein Video, das 2016 mit einem Posting von der rechten Propagandaseite "Postcard News" verbreitet wurde. Darin wurde Lankesh als "bekannte Hindu-Hasserin" bezeichnet. Das verlinkte Video zeigt einen fünfminütigen, aus dem Zusammenhang gerissenen Ausschnitt einer insgesamt etwa halbstündigen Rede von Lankesh. Es beginnt mit dem Schriftzug "Warum ich Säkularismus in Indien hasse" – eine Unterstellung, kein Zitat. Das Video war wohl nicht der Auslöser für den Mord an Lankesh, örtlichen Polizeiquellen zufolge aber ein Element in einem "schrittweisen Indoktrinierungsprozess".

Gefunden wurde es das Video auf dem Laptop des mutmaßlichen Drahtziehers hinter dem Mord an Lankesh. Dieser rekrutierte bei religiösen Veranstaltungen rechtsextreme Aktivisten und bildete sie in Trainingscamps aus. Neben Meditation, Waffentraining und religiöser Erziehung wurden auch Artikel von Lankesh gelesen, Videos ihrer Reden angesehen. Auch dem mutmaßlichen Mörder soll das Video aus dem Jahr 2012 immer wieder gezeigt worden sein, Polizeiangaben zufolge konnte er Teile davon auswendig.

Dieses Video, so fand "Forbidden Stories" durch eine forensische Analyse in Zusammenarbeit mit Forschern des Digital Witness Lab in Princeton heraus, verbreitete sich in indischen rechtsextremen Gruppen und trug zu einem intensiven und hasserfüllten Rufmord bei, der Lankesh als antihinduistisch darstellte, lange bevor der Plan geschmiedet wurde, sie zu ermorden.

Zehn Tage nach ihrem Tod hätte Lankesh vor Gericht erscheinen müssen – aufgrund des Vorwurfs, ihre Rede habe die kommunale Harmonie gestört. "Ich muss mich wegen dieser Rede vor Gericht verantworten", schrieb sie einige Monate zuvor auf Twitter. "Ich stehe zu jedem Wort, das ich gesagt habe." Weder vor Gericht noch vor der Öffentlichkeit hatte sie die Gelegenheit bekommen, sich zu verteidigen.

Ein internationales Phänomen

Lankeshs Arbeit gegen Desinformation soll weiterexistieren: Für genau solche Zwecke gibt es die Investigativredaktion "Forbidden Stories". Sie führt die Recherchen von Journalistinnen und Journalisten weiter, die bedroht, inhaftiert oder ermordet wurden. Der Fall Lankesh wurde von mehr als 100 Journalistinnen und Journalisten von 30 Medien zum Anlass genommen, mehr über die globale Desinformationsindustrie herauszufinden. Die Enthüllungen, die in Österreich im STANDARD erscheinen, reichen von Indien über Israel, Spanien und die USA bis nach Saudi-Arabien.

Die Pressefreiheit ist in Indien seit Modis Regierungsantritt 2014 zusehends unter Druck geraten. In der Weltrangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rutschte Indien im Jahr 2022 um zehn Plätze auf Rang 150 von 180 Ländern ab. Zuletzt sorgten Razzien in BBC-Büros mehrere Wochen nach der Ausstrahlung eines kritischen Dokumentarfilms über Modi für Aufsehen.

Angriffe auf die Presse sind auch in Europa kein neues Phänomen, hatten sich in den vergangenen Jahren aber im Zusammenhang mit "Spaziergängen" angeblich besorgter Bürger sowie der Corona-Pandemie verschärft. Ständige "Lügenpresse"-Vorwürfe begleiten die Branche, vor allem Frauen sind von dem Hass besonders betroffen. Bereits 2016 machten die Journalistinnen Ingrid Thurnher, Corinna Milborn, Hanna Herbst und Barbara Kaufmann darauf aufmerksam. Sie wurden und werden beschimpft, diffamiert und sind auch Opfer massiver Gewaltandrohungen.

Konkret verbessert hat sich seither an der Situation kaum etwas. Hingegen kamen europaweit besorgniserregende Fälle, die weit über Gewaltandrohungen hinausgehen, hinzu: In Malta wurde im Oktober 2017 die Investigativjournalistin Daphne Caruana Galizia, die über Politik und Korruption berichtete, mit einer Autobombe in die Luft gesprengt. Ihr Tod war wenig später Anlass der ersten internationalen Recherchekooperation von "Forbidden Stories": dem "Daphne-Projekt", das 2018 veröffentlicht wurde.

Etwa zwei Monate vor dieser Veröffentlichung wurden im Februar 2018 der slowakische Investigativjournalist Ján Kuciak, der über zwielichtige Geschäfte eines bekannten Unternehmers geschrieben hatte, und seine Verlobte Martina Kušnírová durch Schüsse getötet. Seit dem Krieg in der Ukraine hat sich auch die Lage für Journalistinnen und Journalisten in Russland zunehmend verschärft. (Phineas Rueckert von "Forbidden Stories", Manuela Honsig-Erlenburg, Noura Maan, 14.2.2023)