Kanzler Nehammer und Innenminister Karner Ende Jänner beim Lokalaugenschein an der bulgarisch-türkischen Grenze.

Foto: EPA / Vassil Donev

"Migration nach Europa ist Realität. Die demografische Entwicklung macht sie zunehmend zu einer Notwendigkeit. Gerade um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, ist eine geordnete Zuwanderung hoch-, mittel- und niedrigqualifizierter Arbeitskräfte notwendig."

So steht es in einem neuen Buch, das der Erste Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), und die bekannte Migrationsforscherin an der WU Wien Judith Kohlenberger unter dem Titel So schaffen wir das (Edition A) herausgebracht haben.

Besonders der erste Satz wird in Österreich nicht oder nicht gerne zur Kenntnis genommen. Wir sind "ein Einwanderungsland in Selbstverleugnung", sagte der Migrationsforscher Rainer Bauböck jetzt bei einer Veranstaltung im Presseclub Concordia. Die entsprechende Politik nannte die Migrationsexpertin und frühere Mitarbeiterin des UNHCR (UN-Flüchtlingsagentur) Melita Šunjic bei derselben Veranstaltung die "Stoppt-die-Migration-Täuschung": "Wir können die Migration nicht völlig stoppen, aber wir können sie regulieren."

"Es geht um Lösungen, nicht um Geschrei."

Kluge Köpfe in und außerhalb Österreichs haben das längst begriffen. Die öffentliche Debatte ist aber kilometerweit zurück. Es geht nur noch darum, wie man das Phänomen der Zuwanderung nach Europa am klügsten und für die Bevölkerung der jeweiligen Länder bestmöglich managt. Es geht um Lösungen, nicht um Geschrei.

Kanzler Karl Nehammer ist vom EU-Gipfel vom 9. Februar mit der Botschaft zurückgekehrt, dass die EU nun endlich auf das Drängen der Österreicher gehört habe und Geld für "Maßnahmen" an der Migrationsroute auf dem südöstlichen Balkan bereitstellen werde. Doch die Verstärkung des Zauns an der türkisch-bulgarischen Grenze, den sich Nehammer und Innenminister Gerhard Karner kürzlich vom Hubschrauber aus anschauten, ist nur eine Maßnahme und sicher nicht die wichtigste.

Zentrale Forderungen

Das von Karas und Kohlenberger herausgegebene Buch bietet eine ganze Schar von Experten auf, die durchaus verschiedener Meinung sind. Die Herausgeber leiteten aber aus der Fülle der Beiträge fünf zentrale Forderungen ab, die auf europäischer Ebene umzusetzen wären.

1) Mehr EU, nicht weniger. Einheitliches EU-Asylverfahren. Asylansuchen sollen an den Außengrenzen der EU gestellt werden (nicht wie bisher nach einem Marsch durch andere Staaten, wie zum Beispiel Ungarn, das Zehntausende weiterwinkt). Dazu gehören aber auch legale Fluchtwege und Resettlementprogramme. Die – auch gedankliche – Trennung von Asyl und (Arbeits-)Migration ist Voraussetzung.

2) Ein funktionierendes Grenzmanagement, das aber immer den Grund- und Menschenrechten verpflichtet bleibt.

3) Zeitnahe und solidarische Verteilung von Geflüchteten aus den EU-Mitgliedsstaaten mit Außengrenzen. Damit kommt man der unkontrollierten Weiterreise zuvor.

4) Mehr und bessere "Hilfe vor Ort", um die Menschen in ihren Heimatländern zu halten.

5) Voraussetzung: die Migration als Realität begreifen.

Damit ist aber noch nicht die zweite große Aufgabe angesprochen, nämlich die Integration jener, die schon da sind und nicht gehen werden. Karas spricht sich dafür aus, den "in vielen Mitgliedsstaaten verwehrten Arbeitsmarktzugang für Asylwerbende" zu erleichtern. Das gibt auch den oft mit Furcht und Abneigung zitierten "aggressiven jungen Männern" etwas zu tun und eine Perspektive. Vieles davon erscheint in der jetzigen politischen Situation illusorisch. Aber Migration lässt sich managen. (Hans Rauscher, 14.2.2023)