Valentin Groebner gilt als einer der hellsichtigsten und "gegenwärtigsten" Geschichtswissenschafter des deutschsprachigen Raums. Diesen Ruf hat sich der Professor für die Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Uni Luzern in den vergangenen Jahren durch viel beachtete Bücher wie "Ich-Plakate" (2015), "Retroland" (2018) oder "Bin ich das?" (2021) erschrieben, die Phänomene der Gegenwart wie unsere Gesichter-Manie oder die Sehnsucht nach dem Authentischen klug und stilistisch elegant auf ihre Vorgeschichte hin untersuchen. Dieser Tage erscheint sein neuester Essay, in dem sich der gebürtige Wiener mit schönen Dingen beschäftigt – und wie man sie wieder loswird.

Valentin Groebner spürt dem historischen und zeitgenössischen Umgang mit Alltagsgegenständen nach.
Foto: Franca Pedrazzetti, Luzern

STANDARD: Ihr neues Buch trägt den Titel "Aufheben, Wegwerfen". Was interessiert Sie als Historiker an dem Thema?

Groebner: In der Überfluss- oder Konsumgesellschaft scheinen viele von uns an den zahllosen Dingen zu leiden, die wir besitzen. Ein Leben mit ganz wenigen Dingen erscheint hingegen vielen – nicht zuletzt aus ökologischen Gründen – als erstrebenswert. Diesen Schluss lässt zumindest der Erfolg von Sachbüchern wie "Magic Cleaning" von Marie Kondo zu, die sich millionenfach verkauften und im konkreten Fall sogar zu einer Netflix-Serie wurden. Als Historiker frage ich mich: Ist das wirklich ein ganz neues Phänomen? Oder war Überfluss vor 100 oder 500 Jahren auch schon ein Thema?

STANDARD: Was haben Ihre Recherchen ergeben?

Groebner: Das moralische Reden über die vielen Dinge, die einen korrumpieren, ist schon relativ alt – und die gute alte Zeit hat es auch in diesem Punkt leider nie gegeben. Religiöse Kulturen der Askese und demonstrativer Konsum waren schon früher in der Praxis problemlos kombinierbar. Und auch unsere Lust an den Dingen und die Gegenstände als Statussymbole haben Vorläufer in vielen früheren Epochen und Kulturen. Zugleich gehört aber auch die Vorstellung von der edlen Einfachheit seit vielen Jahrhunderten zur Selbstdarstellung gebildeter Eliten. Dieses Paradox beschäftigt uns bis heute: Wir beklagen, von den Dingen abhängig zu sein, und sie sind uns zu viel. Aber ohne sie halten wir es auch nicht aus.

Valentin Groebner, "Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen", € 21,50, 171 Seiten, Konstanz University Press, Konstanz 2023.

STANDARD: Sie zeigen in Ihrem Buch, dass es in den 1920er-Jahren etwa in der Architektur ganz ähnliche Trends gegeben hat wie den heutigen Reduktionismus der Marie Kondo. Ist das eine weitere Parallele der 1920er-Jahre zu den 2020er-Jahren?

Groebner: Der Minimalismus in den 1920er-Jahren ist eine seltsame Mischung. Auf der einen Seite gab es eine ästhetische Programmatik, der es um Reduktion als Klarheit ging und um die Abkehr vom Antiquarischen, vom historistischen Dekor. Auf der anderen Seite darf man als Historiker aber auch die Wirtschaftskrise und die Hyperinflation des Jahres 1923 nicht vergessen, die gleichzeitig dem wohlhabenden Bürgertum in Deutschland und Österreich eine Verarmung beschert hat, für die es wenige historische Präzedenzfälle gibt. Bis dahin gut gestellte Personen mussten ihr Silbergeschirr verkaufen, um heizen zu können. Beides führte aus sehr unterschiedlichen Gründen zu einem Reden über den richtigen Konsum. Damals wie heute gilt aber auch, dass man sich Minimalismus leisten können muss – und dass demonstrative Askese oft Selbstdarstellung ist, Inszenierung des eigenen Status.

STANDARD: Die Frage des Aufhebens und Wegwerfens spielt auch für die Geschichts- und Archivwissenschaften eine wichtige Rolle: Was soll aufbewahrt werden und was nicht?

Groebner: Ich arbeite viel mit Archivarinnen und Archivaren zusammen, die bei uns an der Universität Lehraufträge haben. Studierende in den Proseminaren sind immer ganz erstaunt, wenn sie zum ersten Mal hören, dass ein wichtiger Teil der Archivarbeit in der Auswahl von Beständen eines möglichst repräsentativen Teils des Amtshandelns besteht. Es ist sozusagen die Vorbedingung für die Aufbewahrung von historischen Dokumenten, 90 Prozent wegzuwerfen. Es darf eben nicht alles aufgehoben werden, sondern nur eine handhabbar große Menge.

Valentin Groebner im November 2022 beim ersten Vortrag der Reihe "Public History" im großen Festsaal der Universität Wien.
Public History at University of Vienna

STANDARD: Ändert sich durch die digitalen Aufbewahrungstechniken daran etwas?

Groebner: Die bringen mehrere interessante Phänomene mit sich. Zum einen zeigt sich im Vergleich mit dem Digitalen, dass Papier noch viel haltbarer ist, als man lange dachte. Zum anderen gilt bei großen Datenmengen eine Art Faustregel: Je höher die Speicherdichte, desto fragiler ist dieser Speicher. Die Digitalisierung benötigt neue Auswahl- und Sicherungstechniken, und die kosten relativ viel Aufwand, Zeit und Strom. Im Grunde läuft das digitale Aufbewahren von Information auf eine Wette hinaus, wie teuer der Strompreis in naher und ferner Zukunft sein wird. Das weiß niemand.

STANDARD: Archive müssen aussondern und wegwerfen. Aber gibt es in der Archäologie und in der Geschichtsforschung umgekehrt nicht ein großes Interesse für alten Müll?

Groebner: Unbedingt. Seit rund 50 Jahren spielt in der Archäologie das Ausgraben und Untersuchen von Abfallgruben eine ungeheuer wichtige Rolle. Viel von dem, was wir etwa über das mittelalterliche Alltagsleben wissen, wissen wir nicht von den Leuten selber oder aus Dokumenten, sondern aus dem, was die Leute weggeworfen haben. Und viele Dinge, die für die heutige Geschichtsforschung von besonderem Interesse sind, blieben deshalb erhalten, weil sie sich damals in Müll verwandelt hatten.

STANDARD: Was zum Beispiel?

Groebner: Dafür gibt es viele berühmte Beispiele: In der Geniza der Ben-Ezra-Synagoge von Kairo hat man im Laufe der Jahrhunderte unzählige mittelalterliche Dokumente in einem Hohlraum entsorgt, weil aus religiösen Gründen kein Stück Papier oder Pergament weggeworfen werden durfte, auf dem der Name Gottes steht. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat man in diesem Altpapierspeicher insgesamt fast 300.000 Dokumente entdeckt, die heute eine unschätzbare Quelle für das jüdisch-arabische Leben aus dem Früh- und Hochmittelalter darstellen. Ähnliches gilt für das Geschäftsarchiv eines Florentiner Kaufmanns namens Francesco di Marco Datini aus dem 14. Jahrhundert. Der hat sein gesamtes Geschäftsarchiv nach seinem Tod in seinem Haus in Prato einmauern lassen. Das wäre dreißig Jahre nach dem Tod des Geschäftsmanns Abfall gewesen. Heute ist es das außergewöhnlichste Archiv für die Wirtschaftsgeschichte des Spätmittelalters.

STANDARD: Viele von uns bekommen es früher oder später mit dem weniger umfangreichen Nachlass der eigenen Eltern und Großeltern zu tun. Haben Sie einen Rat, wie damit am besten umzugehen ist?

Groebner: In vielen Fällen haben diese Eltern oder Großeltern ihr Leben lang Dinge anhäufen können, was uns heute vor Probleme stellt: Denn mehr als eine Klassikerbibliothek und ein Porzellanservice können wir nicht brauchen, wenn überhaupt. Ich habe es nach dem Tod meiner beiden Eltern übernommen, mich um deren Fotos und Papiere zu kümmern – ganze Kartons davon. Einiges kam weg, einiges habe ich meinen Brüdern gegeben, und einiges habe ich behalten. Ein weiterer Bestand stammte von meinem Großvater, der in der NS-Zeit Ortsgruppenleiter in einer oberösterreichischen Kleinstadt war. Dessen Nachlass, seine Haushaltsbücher und vielen Privatbriefe habe ich ins Oberösterreichische Landesarchiv gegeben. Ich möchte diese historischen Dokumente einfach nicht bei mir aufbewahren. Sie gehören in eine öffentliche Gedächtnisinstitution. Ein Onkel, der Fotograf war, hat nie etwas weggeworfen. Seine Wohnung war dann nach seinem Tod so voll mit seinen Dias, Negativen und Fotostapeln, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab, als alles zum Müll zu geben. Die Dinge brauchen also Glück, um für nächste Generationen aufbewahrt zu werden.

Valentin Groebner findet den Minimalismus in der Theorie "extrem anziehend – als Utopie, mit ganz wenigen richtig schönen Dingen zu leben". Persönlicher Nachsatz: "Nur kriege ich es leider nicht hin."
Foto: Getty Images / iStockphoto / runna10

STANDARD: Kommen wir noch einmal auf Marie Kondo und die neue Lust am Minimalismus zurück, die, wie Sie schreiben, ihre historischen Vorläufer hat. Wie ist das bei Ihnen? Leisten Sie es sich, minimalistisch zu sein?

Groebner: Ich habe gerne leere weiße Wände, schon deshalb muss ich immer wieder aussortieren. Außerdem bin ich in meinem Leben oft umgezogen. Umziehen ist der Augenblick der Wahrheit. Man lässt erstaunlich viel zurück – und das Allermeiste davon vermisst man nicht. Im Wegwerfen steckt ziemlich viel persönliche Befreiung. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich den Minimalismus in der Theorie extrem anziehend finde – als Utopie, mit ganz wenigen richtig schönen Dingen zu leben. Nur kriege ich es leider nicht hin. Wenn ich aussortiert habe, dann schaffe ich mir hinterher neue Dinge an. Diese Lust an den Alltagsgegenständen ist heute angesichts von Konsumkritik und Klimawandel nicht selbstverständlich, und das ist gut so; aber es gibt sie natürlich trotzdem. In schönen Dingen steckt einfach auch Magie. (Klaus Taschwer, 19.2.2023)