Ermittler nach einer Explosion im Stockholmer Stadtteil Södermalm.

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Die Welle der Gewalt, dargestellt auf einer Zeitleiste.

Grafik: Standard

Schießereien, Detonationen, Todesopfer: Die Gewaltserie in der schwedischen Hauptstadtregion reißt seit Weihnachten nicht ab. Das jüngste Opfer war Ende Jänner ein 15-Jähriger, der in einem Restaurant in Skogås südlich von Stockholm erschossen wurde. Ein Verdächtiger befindet sich in Haft. Auch er ist erst 15 Jahre alt.

Warum sich vor allem Teenager und junge Männer auf den schwedischen Straßen bekriegen, ist vordergründig einfach erklärt: Es tobt ein Kampf um die Drogenmärkte der Hauptstadt und der umliegenden Gebiete. Gegenüber stehen sich zwei Gangs. Jene unter dem "kurdischen Fuchs", einem 37-jährigen verurteilten Kriminellen, der seine illegalen Geschäfte von seinem Heimatland Türkei aus steuert. Und jene eines 24-jährigen Bandenbosses – bekannt als "der Grieche" –, der vor allem den Süden der Hauptstadt kontrolliert, aber nun expandieren will.

Terrorvergleich

Die Polizei scheint nur wenige Mittel zu haben, um die Gewaltwelle zu brechen. Etwa 100 Kräfte wurden aus den nördlichen Regionen abgezogen, um in der Hauptstadt bei der Verbrechensbekämpfung zu helfen – was zu einer Ressourcenknappheit in den Heimatregionen der Beamtinnen und Beamten führte. Die schwedische Regierung will mit höheren Strafen und mehr Polizeipräsenz auf den Straßen reagieren. Premierminister Ulf Kristersson spricht gar von "Inlandsterroristen", die man mit aller Härte bekämpfen müsste.

Dabei ist die Bezeichnung nicht ganz unpassend, sagt Amir Rostami im Gespräch mit dem STANDARD. Der Kriminologe von der Universität Gävle beschäftigt sich seit Jahren mit organisiertem Verbrechen und Bandenkriminalität. Für ihn verwenden die Gangs in Schweden einen ähnlichen Modus Operandi wie Terroristen: "Sie setzen Bomben ein, feuern Schüsse an öffentlichen Plätzen ab und nehmen unbeteiligte Opfer in Kauf", sagt Rostami.

Lose organisiert und gewaltbereit

Zwar seien die schwedischen Banden ohne klare politische Agenda – abseits ihrer Versuche, Einfluss auf Polizei und Entscheidungsträger für ihre Drogengeschäfte zu nehmen –, doch hätten sie "mehr mit Terroristen gemein, als sie von diesen trennt".

Die aktiven Gangs sind laut Rostamis Einschätzung zudem "sehr lose organisiert, agieren kurzsichtig und sehr gewaltbereit". Sie würden zudem vermehrt Jugendliche rekrutieren. Laut dem stellvertretenden Polizeichef von Stockholm, Max Åkerwall, kam es zu diesem Trend, da ältere Bandenmitglieder ins Gefängnis wanderten und so ein Machtvakuum entstand: "Manchmal machen die Jugendlichen es freiwillig, manchmal aus Angst, und manchmal werden sie dazu gezwungen", sagt Åkerwall zum schwedischen Rundfunk SVT.

Soziale Ungleichheit

In den vergangenen Jahre habe sich in Schweden ein "fruchtbarer Boden" entwickelt, der die "Rekrutierung von Jugendlichen" erleichtert hat, ist sich auch Torbjörn Forkby sicher, Professor für Soziale Arbeit an der Universität Linnaeus: "In Schweden gilt der Staat nicht mehr automatisch als Garant dafür, dass alle die gleichen Möglichkeiten für ihre Zukunft erhalten", sagt Forkby im Gespräch mit dem STANDARD.

Das soziale Ungleichgewicht wächst. Jüngste Zahlen des nationalen Statistikinstituts SCB zeigen, dass das reichste Zehntel der Bevölkerung im Jahr 2021 mehr als ein Viertel des Gesamteinkommens im Land unter sich aufteilt – den gleichen Wert, den auch die Hälfte der Schweden in dem Jahr verdient hat. In den ersten 100 Tagen der Amtszeit hat die konservative Regierung unter Kristersson zudem bereits Schritte gesetzt, um im Gesundheits-, Bildungs- und Pflegesystem zu sparen.

Kritik an Wohnheimen

Für Forkby wäre es aber wichtig, sich neben der Verbrechensaufklärung auch darum zu kümmern, dass die Jugendlichen nicht mehr so leicht von Gangs rekrutiert werden können. Dabei kritisiert er etwa, dass Kinder und Jugendliche aus problematischen Familienverhältnissen in Wohnheime gesteckt werden. Dort würden sich die Teenager oft gegenseitig beeinflussen. Auch der vor kurzem verhaftete 15-jährige Mordverdächtige war in einer solchen Einrichtung untergebracht.

Einen alternativen Vorschlag zu einer solchen Unterbringung hat das schwedische Amt für Gesundheit und Wohlfahrt im Jahr 2021 vorgelegt. Angelehnt an das "Treatment Foster Care"-System des US-Bundesstaats Oregon sollten Zwölf- bis 17-Jährige nicht in staatliche Unterkünfte, sondern zu sozial gut gestellten Familien kommen. Während der Unterbringung dort sollen sie gemeinsam mit ihren Geburtsfamilien eine Therapie besuchen. Forkby unterstützt den Vorstoß, merkt aber an, dass es schwierig sei, solche Unterbringungsfamilien zu finden.

Er selbst ist Teile eines Projekts, das zur Probe in einer Handvoll Gemeinden eingesetzt wird: "Connect Children" heißt es und verbindet Forschung mit Praxis. Das Ziel ist, so früh wie möglich zu erkennen, welche Kinder abrutschen könnten, und diese aufzufangen. Gleichzeitig wird regelmäßig evaluiert, wie Maßnahmen funktionieren, und gegebenenfalls werden diese dann angepasst. Denn es gebe eben nicht nur drei Schritte, um das System zu verbessern: "Da können wir einiges von der Corona-Pandemie lernen", sagt Forkby. Damit meint er vor allem das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik – und dass auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse auch in der Praxis reagiert wird.

Keine Spezialeinheit

Die Sozialarbeit müsste laut Kriminologe Rostami auch stärker in die Polizeiarbeit einfließen, damit man genug Wissen über das Umfeld der Gangs sammeln könnte. In puncto Kompetenz gebe es zudem noch ein weiteres Manko bei der Polizei: Seit Anfang der 2000er existiere keine Spezialeinheit für Bandenkriminalität mehr.

Die Ermittler hätten laut Rostami außerdem jahrelang eine wichtige Dimension bei der Bandenbekämpfung übersehen und nicht die Finanzierungen im Hintergrund gekappt. Gibt es bei all diesen Baustellen überhaupt einen Weg aus der Gewaltwelle? "Ja", sagt Rostami: "Wir haben die Ressourcen und die Fähigkeiten, dieses Phänomen zu bekämpfen." Jetzt braucht es nur noch den Willen. (Bianca Blei, 19.2.2023)