Die Direktorin des International Institute for Peace, Stephanie Fenkart, schreibt im Gastblog anlässlich der Jährung des Krieges über die Rolle, die anderen Staaten und internationalen Organisationen in dieser Situation zukommt.

Was viele in Europa nicht mehr für möglich gehalten hatten, einen Überfall eines Staates auf einen anderen europäischen und demokratischen Staat, ist eingetreten. Vor einem Jahr hat Russland einen großen Angriff auf die gesamte Ukraine gestartet, die es bereits seit 2014 auch militärisch destabilisiert, inklusive der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim und der Unterstützung sogenannter Separatisten im Osten des Landes. Der Krieg ist zurück in Europa. Und Frieden ist nicht in Sicht.

Der nicht provozierte russische Angriffskrieg ist nicht nur völkerrechtlich illegal, sondern führt auch zu unbeschreiblichem menschlichem Leid, der Zerstörung von Infrastruktur und Lebensraum. Millionen Menschen sind auf der Flucht – innerhalb und außerhalb der Ukraine – viele harren regelmäßigen Luftangriffen in Luftschutzbunkern oder U-Bahn-Stationen aus, bei eisiger Kälte, oftmals ohne Strom.

Welche Optionen bestehen, um dem russischen Angriffskrieg ein Ende zu bereiten? Ein Ende der Waffenlieferungen ist keine Lösung.
Foto: imago images/Michael Gstettenbau

Dass die Ukraine der angenommenen russischen militärischen Überlegenheit bis jetzt so gut standhalten konnte, liegt neben den westlichen Waffenlieferungen auch an der hohen Moral in der ukrainischen Armee und an der gesellschaftlichen Unterstützung der Ukrainerinnen und Ukrainer, die die Souveränität ihres Staates, aber auch ihre ukrainische Identität verteidigen.

Die Unterstützung der Ukraine durch den "Westen" mit Waffenlieferungen und weitreichenden Sanktionen ist aber nicht nur für den Fortgang des Krieges auf ukrainischem Territorium von Bedeutung, sondern auch für die Zukunft der gesamten europäischen Sicherheit. Das mag insbesondere jenen, die glauben, dass das Ende von Waffenlieferungen auch das Ende des Konfliktes – besser der Konflikte – bedeute, nicht gefallen, ist aber angesichts der Rolle, die die Ukraine auch im Kontext geopolitischer Großmachtkonflikte spielt, nicht von der Hand zu weisen.

Konflikt auf vielen Ebenen

Seit den Tschetschenienkriegen und Putins Machtübernahme in Russland 1999 regierte er sein Land zunehmend autoritär. Vor allem in den letzten Jahren agierte das Regime vermehrt repressiv, schränkte die Versammlungs- und Pressefreiheit ein, brandmarkte Nichtregierungsorganisationen als foreign agents und Verbot jegliche Finanzierung aus dem Ausland für dieselben. Dazu kommen der militärische Einsatz auf georgischem Staatsgebiet 2008, der Eintritt in den Krieg in Syrien 2016, die Annexion der Krim 2014 und die Unterstützung sogenannter Separatisten im Osten der Ukraine und nicht zuletzt der Großangriff auf die souveräne Ukraine.

Bedenkt man die zusätzlichen Ebenen der Kriegsführung – Propaganda, Cyber-Attacken, Angriffe auf kritische Infrastruktur, den Wirtschaftskrieg beziehungsweise die verursachte Energiekrise bis hin zu Konflikten im Weltall und nicht zuletzt die äußerst gefährlich Drohung des Einsatzes von Atomwaffen – dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass mit einer Niederlage der Ukraine die Konflikte gelöst wären. Der Krieg betrifft auch uns und gefährdet die Sicherheit eines jeden anderen europäischen Staates. Und er zwingt uns auch dazu, das gesamte europäische Sicherheitssystem neu zu überdenken.

Fehlende Zielsetzung Europas

Die europäischen Staaten sind sich den Gefahren – in unterschiedlicher Geschwindigkeit und auch in unterschiedlichem Ausmaß – bewusst. Was aber auch jetzt, ein Jahr nach Kriegsbeginn fehlt, ist eine gemeinsame Zielsetzung, die der Westen in der Ukraine verfolgt. Boris Johnson sagt noch als Premierminister Großbritanniens "It is time for victory, not for negotiations". Deutschland, hingegen, schlägt einen vorsichtigeren Weg ein, obwohl es mit der Entscheidung letztes Jahr Waffen zu liefern ein innenpolitisches Tabu gebrochen hatte. Die baltischen Staaten und Polen – auch aufgrund ihrer historischen Erfahrungen – treten für eine weitreichendere Unterstützung und vermehrte Waffenlieferungen ein.

Ob das gemeinsame europäische Ziel mit dem ukrainischen Ziel der Rückdrängung Russlands aus dem gesamten ukrainischen Territorium – inklusive der Krim – übereinstimmt, oder die Widerherstellung des Status Quo vor dem 24. Februar 2022 angestrebt wird, oder die Ukraine wohl mögliche (in der Ukraine äußerst unpopuläre) territoriale Zugeständnisse im Austausch für ein Waffenstillstandsabkommen eingehen sollte oder aber die Ukraine mit Waffenlieferungen in eine bessere Verhandlungsposition gebracht werden soll, ist nicht eindeutig. Einigkeit besteht lediglich darin, dass Russland den Krieg nicht gewinnen darf und die Ukraine weiterhin zur Selbstverteidigung befähigt werden muss. Über all dem schwebt die Drohung Russlands mit dem Einsatz von Atomwaffen als Ultima Ratio – aus russischer Sicht.

Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig

Waffenlieferungen kommen oft zu spät und sind vor allem zu wenig, um der Ukraine einen entscheidenden militärischen Vorteil zu verschaffen. Die Gründe dafür sind wohl weniger Zeichen des "Nichtwollens", sondern einerseits des "Nichtkönnens" – weil beispielsweise Ausbildungszeit benötigt wird oder aber Wartungsarbeiten an Panzern durchgeführt werden müssen, vor allem auch an der Gefahr einer weiteren Eskalation inklusive des Einsatzes von taktischen Atomwaffen, die niemand mehr zu kontrollieren in der Lage wäre. Auch wenn dies momentan als nicht wahrscheinlich wahrgenommen wird, hat das Bulletin of Atomic Scientists die sogenannte Doomsday-Uhr am 24. Jänner 2023 auf 90 Sekunden vor Mitternacht gestellt – näher an einer globalen Katastrophe als je zuvor (auch wegen des iranischen Atomprogramms, Nordkorea und des generellen Zustands der atomaren Abrüstung). Nicht wahrscheinlich bedeutet aber leider auch zumindest möglich.

Das Dilemma der Abwägung zwischen Unterstützungsmöglichkeiten der Ukraine einerseits und der Möglichkeit einer weiteren Eskalation, führt nun dazu, dass Einigkeit darin besteht die Ukraine zwar in die Lage zu versetzen Russland standzuhalten, aber leider auch dazu, dass entscheidende Systeme nicht oder nur zögerlich und in zu geringer Zahl geliefert werden, um Russlands "rote Linien" nicht zu überschreiten und die Gefahr einer direkten Konfrontation damit zu erhöhen. Oberst Markus Reisner beschrieb die westlichen Waffenlieferungen in diesem Zusammenhang kürzlich wie folgt: "Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel."

Solange die Ukraine und Russland der Überzeugung sind, den Krieg militärisch zu gewinnen – und das ist derzeit der Fall – gibt es wohl wenig Aussicht auf ein baldiges Ende. Doch der Faktor Zeit spielt hier eine wichtige Rolle, denn neben Waffensystemen oder Kampfjets fehlt es in der Ukraine vor allem an Munition, Ersatzteilen und irgendwann in der Zukunft auch an Militärpersonal. Die nun erwartete – oder vielleicht bereits begonnene – russische Winteroffensive wird wohl eine erneute militärische Herausforderung für die Ukraine in diesem bereits ein Jahr dauernden Abnutzungskrieg sein.

Es gibt keine Abkürzung zum Frieden

Vor kurzem haben in Deutschland die Vorsitzende der Linken, Sarah Wagenknecht und die Feministin Alice Schwarzer ein sogenanntes "Manifest für den Frieden" als Petition veröffentlicht, in dem Sie das Ende deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine fordern. "Frieden statt Panzer" lautet die Parole, die eine kurzfristige einfache Lösung eines höchstkomplexen vielschichtigen Konfliktes inklusiver einer militärischen Aggression suggeriert. Dass das Einstellen ausländischer Waffenlieferungen an die Ukraine eine militärische Niederlage mit sich führen würde, ist ausreichend dokumentiert und auch bekannt. Damit könnte eine Atommacht Russland mit Mittel von Krieg, den die internationale Gemeinschaft spätestens nach 1945 als unzulässig und illegal anerkannte, Territorien gewinnen, Ländern ihre Souveränität und nationale Identität absprechen und Terror über ein ganzes Staatsvolk bringen.

Der Krieg findet auf ukrainischem Territorium statt. Es ist die ukrainische Infrastruktur, die zerstört wird, es ist die ukrainische Bevölkerung die bombardiert wird, es sind ukrainische Kinder, die verschleppt werden und und es ist die ukrainische Identität und Souveränität der ein Existenzrecht abgesprochen wird. Sollte ein solches imperiales Verhalten seine Ziele erreichen, bedeutet das nicht zuletzt Unsicherheit für alle anderen Staaten in Europa.

Man muss kein Friedensforscher oder keine Friedensforscherin sein, um zu erkennen, dass eine militärische Niederlage der Ukraine keinen nachhaltigen Frieden bringen kann. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Gewalt und Frieden ist nur nachhaltig, wenn er auch als gerecht empfunden werden kann. Das lässt sich nicht von heute auf morgen erzwingen, sondern es ist ein mühsamer, langwieriger, komplexer und vielschichtiger Prozess. Es gibt keine Abkürzung zum Frieden, auch wenn sich das viele wünschen.

Ein Prozess der kleinen Schritte

Die Nato und ihre Mitgliedstaaten haben eine direkte militärische Beteiligung bisher ausgeschlossen und werden an dieser Einstellung voraussichtlich vorerst auch nichts ändern. Was kann der Westen zusätzlich zu den Waffenlieferungen und den Wirtschaftssanktionen leisten, um einen möglichen Verhandlungsprozess vielleicht nicht in Gang zu setzen, aber zu fördern und zumindest nicht zu topedieren?

Sollte die Ukraine – auf welcher Basis und vor welchen Hintergründen auch immer – irgendwann zu einem ersten Austausch als Basis für mögliche Verhandlungen, etwa zur Vereinbarung eines Waffenstillstands bereit sein, sollte dies zumindest nicht aus Eigeninteresse topediert werden.

Der Westen sollte zudem versuchen, neutraler wahrgenommene Staaten wie Brasilien, Südafrika oder Indien in Verhandlungsprozesse nicht nur einzubinden, sondern sie auch auffordern, diesen maßgeblich zu gestalten. Vor allem aufgrund der Preiserhöhungen und Energieunsicherheit haben diese Staaten ebenfalls ein Interesse an einem Kriegsende und könnten Druck auf Russland ausüben.

Auch China beobachtet den Krieg in der Ukraine sehr genau, nicht zuletzt im Hinblick auf zukünftige Szenarien in Taiwan. Im Gegensatz zu den oben genannten Ländern profitiert China bisher allerdings vor allem durch Rohstoffimporte aus Russland aber auch vom Engagement der USA in der Ukraine. Dennoch könnte eine Gruppe von Staaten versuchen, auch China in zukünftige Verhandlungsprozesse einzubeziehen.

Diplomatie und Abrüstung

Stille Diplomatie sollte in Einklang und im Austausch mit der Ukraine versuchen, nicht nur das auszuloten, was wünschenswert ist, sondern auch, was machbar ist. Eine komplementäre Strategie beinhaltet neben militärischer Unterstützung auch ein gewisses Maß an Diplomatie. Der bis heute andauernde Waffenstillstand zwischen Nord- und Südkorea kam maßgeblich durch Hintergrunddiplomatie Kissingers zustande. Teile dieser Gespräche beinhalten auch wichtige praktische Fragen wie Gefangenenaustausch, Waffenstillstände oder der Zugang humanitärer Helfer in Kriegsgebiete sowie der Schutz der Zivilbevölkerung.

Neben der Notwendigkeit des Ausbaus und Erhalts der Selbstverteidigungsfähigkeit sollte sich die EU vor allem auch um Abrüstungsverträge inklusive nuklearer Abrüstung bemühen. Internationale Abrüstungsverträge gehen über den Krieg in der Ukraine hinaus und sind ein wichtiger Beitrag zu einer friedlicheren Welt. Durch die bisher relativ erfolgreiche Drohung des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen in der Ukraine hat Russland ein lang geltendes Tabu gebrochen. Dass neun Staaten alle anderen Staaten der Welt durch den Besitz von Atomwaffen in ihrer Sicherheit gefährden – alle fünf ständigen Mitglieder des UN Sicherheitsrats – ist keine gute und nachhaltige Basis für eine gewaltfreie und sichere Welt. Bereits 91 Staaten haben den Atomwaffenverbotsvertrag, der die Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz von Kernwaffen verbietet, inklusive der Drohung damit, verbietet, unterzeichnet.

Aufgaben von EU und Nato

Unterstützung im humanitären Bereich sowie für Flüchtlinge ist ein weiterer Bereich, in dem die EU aktiv bleiben muss und auch aktiv sein kann. Dazu zählt auch die Unterstützung von NGOs, sowie Journalismus, Wissenschaft und Kultur.

Insbesondere seit der Verleihung des Kandidatenstatus sollte die EU die Ukraine in ihrem Demokratisierungsprozess und in ihrer Antikorruptions- und Justizreform unterstützen und auch eine glaubwürdige und transparente Erweiterungspolitik verfolgen, die auch die anderen Kandidaten vor allem am Westbalkan nicht außen vor lässt.

Zuletzt gilt es, sich um die Zukunft gesamteuropäischer Sicherheit Gedanken zu machen. Die Revitalisierung der Nato als Sicherheitsgarant für Europa scheint durch den Krieg und den zukünftigen Beitritt Finnlands und Schwedens momentan als alternativlos. Doch nächstes Jahr wird in den USA gewählt und spätestens seit Trumps Präsidentschaft sollte die EU gelernt haben, ihre Sicherheit auch als Eigenverantwortung wahrzunehmen.

Welchen Platz Russland in der Zukunft innerhalb oder außerhalb dieser europäischen Sicherheitsarchitektur haben wird, ist wohl die große Frage der nächsten Jahre – vielleicht Jahrzehnte – und hängt nicht zuletzt vom Ausgang des Krieges gegen die Ukraine ab. (Stephanie Fenkart, 24.2.2023)