Gletscher und Schelfeis in der Antarktis werden künftig stärker abschmelzen.
Foto: AP / Rodrigo Jana

Das berühmteste Stück Eis in der Antarktis ist der Thwaites-Gletscher – nicht zuletzt aufgrund seines unheilverkündenden Spitznamens. Der "Doomsday Glacier" beschwört den Weltuntergang herauf: Wenn er abschmilzt, sorgt er allein über Jahrhunderte für einen Anstieg des Meeresspiegels um 65 Zentimeter, wie derzeitige Modelle voraussagen. Dies würde wiederum in seiner Umgebung eine Art Kettenreaktion auslösen, die innerhalb von Jahrtausenden den Pegel der Meere um drei Meter nach oben treiben würde.

Dementsprechend ist die Wissenschaft sehr interessiert daran, sein Abschmelzverhalten besser zu verstehen. Bisher gibt es nur wenige Stellen, an denen Messungen durchgeführt werden, und das oft nicht regelmäßig. Zwei neue Studien aus der Fachzeitschrift "Nature" zeigen, wie es besser gehen würde – und lieferten neue Erkenntnisse über das Aussehen der Gletscher unter der Wasseroberfläche.

Bohrloch im Eis

Gerade der Bereich, an dem ein Gletscher sich vom festen Boden löst und sich das Eis im Meer fortsetzt – die sogenannte "grounding line" –, ist an der Unterseite maßgeblich für das Schmelzen. Dort beginnt das Schelfeis, das auf dem Meer schwimmt. Gleichzeitig ist sie aber sehr schwierig zu beobachten.

Der technische Fortschritt ermöglichte nun den Gewinn wertvoller Daten: Ein Forschungsteam installierte am unteren Ende eines fast 600 Meter tiefen Bohrlochs ein Gerät, das über neun Monate hinweg Wassertemperatur, Salzgehalt, Flussgeschwindigkeit und Schmelzrate gemessen hat. Die Erhebung fand im Rahmen des US-amerikanisch-britischen MELT-Projekts statt, einer der größten internationalen Feldkampagnen, die je in der Antarktis durchgeführt wurden.

Gletscher in Schwierigkeiten

Bemerkenswert sind die Veränderungen am Thwaites-Gletscher der vergangenen Jahrzehnte: Die "grounding line" hat sich seit den späten 1990er-Jahren um 14 Kilometer in Richtung des Zentrums des Kontinents verschoben. Ein Großteil des Eisschilds liegt unterhalb des Meeresspiegels und ist besonders anfällig für schnellen Eisverlust, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Die Grafik zeigt, wie in den beiden "Nature"-Studien gemessen wurde und auf welche Ergebnisse die Teams stießen. Links ist die Messung am Bohrloch von Davis und Team dargestellt, rechts die schwimmende Messung von Schmidt et al. Datenerhebung an der "grounding line" ist schwierig, für Schmelzvorgänge aber besonders aussagekräftig.
Grafik: Nature 2023

Umso überraschender sind die Ergebnisse des Teams: Zwar ist der Ozean in diesem Bereich wärmer und auch salziger geworden. Doch die Schmelzrate betrug durchschnittlich nur zwei bis fünf Meter – weniger, als die Prognosen besagten. Entwarnung bedeutet dies jedoch nicht, sagt der am Projekt beteiligte Ozeanograf Peter Davis vom britischen Polarforschungsprogramm BAS in Cambridge: "Der Gletscher ist immer noch in Schwierigkeiten."

Wenn das Schelfeis auf dem Meer und der Gletscher im Gleichgewicht sind, bedeutet dies für die Eisrechnung: Das Eis, das vom Kontinent abfließt, entspricht auch der Menge an Eis, die durch Schmelzen und Kalben von Eisbergen verlorengeht. Dies scheint am Thwaites-Gletscher aber nicht der Fall zu sein: "Wir haben festgestellt, dass trotz geringer Schmelzmengen ein schneller Gletscherrückgang zu verzeichnen ist", sagt Davis. "Es braucht also offenbar nicht viel, um einen Gletscher aus dem Gleichgewicht zu bringen."

Roboter-Delfin

Das Bohrloch nutzte auch ein Team um Britney Schmidt von der Cornell University in den USA – als Aufzugschacht für einen Roboter. Der "Icefin" schwimmt so in Bereiche der Grenzzone, die zuvor nicht zugänglich waren. Und er überraschte die Forschungsgruppe ebenfalls mit neuen Erkenntnissen. Bisher hatte man angenommen, dass die Unterseite des Eises sehr flach und horizontal verläuft. Beobachtet wurden aber zahlreiche Stufen (oder Terrassen) und Spalten.

Diese schmelzen schneller ab. Vor allem durch die Spalten fließt warmes Wasser, das die Ritzen erweitert und größere Risse bilden kann. So "trägt es dazu bei, den Gletscher an seinen schwächsten Stellen abzutragen", sagt Schmidt. Dies könnte das Schmelzen also stark beeinflussen: "In diesen sehr warmen Teilen der Antarktis kommt es nicht nur darauf an, wie viel Schmelze stattfindet, sondern auch darauf, wie und wo sie stattfindet."

Hohe Emissionen, starker Verlust

Eine weitere Studie, die am Dienstag veröffentlicht wurde, stellt ein neues Klimamodell vor, das versucht, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Eisschilden, Eisbergen, Ozeanen und Luft besser zu berücksichtigen. Dies gelte nicht nur für die Antarktis, sondern auch Grönland, schreibt das internationale Team um Erstautor Jun-Young Park von der Pusan National University in Südkorea im Fachjournal "Nature Communications".

Freilich konnten sie noch nicht die neuen Erkenntnisse der Fachkolleginnen und -kollegen berücksichtigen. Die Szenarien, die sie analysierten, beziehen sich auf Pfade, die auch in den jüngsten Weltklimarat-Reports demonstriert wurden: drei Modelle, die schwache, mittlere oder starke Einschränkungen der Treibhausgasemissionen beschreiben.

Die Grafik zeigt verschiedene Entwicklungstrends – und wie die Antarktis folglich 2150 aussehen könnte. Das blaue Szenario zeigt starke Emissionseinschnitte und deckt sich mit dem IPCC-Modell SSP1-1.9. Das pinke Szenario zeigt einen Mittelweg mit mäßiger Einschränkung (SSP2-4.5), die orangefarbene Kurve einen Pfad bei schwachem Rückgang der Emissionen.
Bild: Jun-Young Park

Die Prognose reicht bis ins Jahr 2150 – also in weniger als 130 Jahren. Dann dürfte bei weiterhin hohen, kaum eingeschränkten CO2-Emissionen der Meeresspiegel allein um 1,4 Meter steigen, weil Eisflächen schmelzen. Übersteigt der globale Temperaturdurchschnitt 1,8 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau, was derzeit durch das kaum haltbare 1,5-Grad-Ziel durchaus wahrscheinlich ist, prognostiziert die Studie einen unumkehrbaren Verlust der antarktischen Eisschilde und einen rasch beschleunigten Anstieg der Meeresspiegel.

Unbewohnbare Gebiete

Im vergangenen Jahrhundert ist der Pegel bereits um etwa 20 Zentimeter gestiegen. Vor allem Menschen, die in Küstenregionen leben, dürfte die weitere und beschleunigte Entwicklung massiv betreffen und dafür sorgen, dass manche Gebiete künftig unbewohnbar werden. Derzeit stellt die Reaktion des antarktischen Eisschildes auf die globale Erwärmung die größte Unsicherheit bei der Abschätzung des künftigen Meeresspiegels dar, wofür die aktuelle Studie eine verbesserte Grundlage liefert.

Der Arbeit zufolge dürften die schmelzenden Eisschilde in Arktis und Antarktis allein jeweils dafür sorgen, dass in den kommenden 130 Jahren der Pegel im Mittel um etwa 60 bis 70 Zentimeter steigt. Die Begrenzung der globalen Erwärmung auf zwei Grad würde nicht ausreichen, um den Anstieg des Meeresspiegels zu verlangsamen und den Verlust großer Teile des westantarktischen Eisschildes zu verhindern. Nur durch eine Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf weniger als 1,8 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau bis zum Ende dieses Jahrhunderts kann eine weitere, sehr starke Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs vermieden werden, schreibt das Team.

Doppelt so groß wie Österreich

Dass der Thwaites-Gletscher längerfristig für den weltweiten Wasserstand so bedrohlich ist, liegt an seiner Größe – mehr als doppelt so groß wie Österreich – und an seiner Geografie, sagt Craig McConnochie von der University of Canterbury in Neuseeland. Er ist Experte für natürliche dynamische Flüssigkeitsströme und kommentierte die beiden "Nature"-Studien in einem Begleitartikel. "Wie viele Gletscher in der Westantarktis sitzt Thwaites auf Felsen, die zur Küste hin abfallen." So könne er einen instabilen Zustand erreichen und dann kontinuierlich und rasch in den Ozean kollabieren.

Den derzeitigen Prognosemodellen fehlt die Auflösung, die die beiden neuen Studien lieferten, und das dürfte auch in absehbarer Zukunft so bleiben, befürchtet McConnochie. Der Aufwand ist hoch, an mehreren Stellen regelmäßige Messungen durchzuführen. Doch positiv sei hervorzuheben, "dass diese Studien einen Standard setzen, den zukünftige Beobachtungsarbeiten anstreben sollten". (sic, 15.2.2023)