Ökonom Michael Soder schreibt in seinem Gastkommentar, dass die industriepolitische Wende nur mit strengen Auflagen gelingen kann. Dazu zählt er auch Standort- und Beschäftigungsgarantien sowie Verantwortung für Lieferketten.

In seinem Gastkommentar spricht Politikwissenschafter Etienne Schneider von einer Wende in der europäischen Industriepolitik, in der dem Staat wieder eine größere Rolle als Gestalter zukommt. Zu Recht weist Schneider auch auf die Gefahr hin, dass einzelne Unternehmensinteressen das Projekt der grünen Industrietransformation unterlaufen und zu einem Spielball der Lobbyinteressen machen. Dennoch sind, anders als Ökonom Jan Kluge argumentiert, die mit der industriepolitischen Wende einhergehenden hohen Subventionen bis zu einem gewissen Grad unausweichlich, ist die Industrie doch mit hohen Vorabinvestitionen und Pfadunsicherheiten konfrontiert. Wichtig wäre es daher, die enormen Beihilfen an strikte soziale und ökologische Kriterien zu binden und die wirtschaftspolitische Kooperation der Mitgliedsstaaten weiter zu stärken.

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Grüne Industrie, "Made in Europe", soll die Wettbewerbsfähigkeit steigern.
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Die Transformation, die notwendig ist, um unsere Wirtschaftsstrukturen in Richtung Klimaneutralität zu bewegen, wird enorm sein. Die Schätzungen der EU-Kommission gehen von einem zusätzlich notwendigen Finanzierungsbedarf des grünen und digitalen Umbaus der Europäischen Union von 650 Milliarden Euro pro Jahr bis 2030 aus – und bei sich verschärfenden Klimazielen entsprechend höher. Die Ambition ist aber nicht nur die Höhe der erforderlichen Mittel, sondern auch der Faktor Zeit. Um Klimaneutralität rechtzeitig zum Einhalten der Klimaziele zu erreichen, muss der Umbau möglichst rasch erfolgen.

Die EU verfolgt mit dem Green Deal und allen damit verbundenen Initiativen, den Strukturwandel hin zu einer digitalen und klimaneutralen Zukunft zu beschleunigen. Schließlich soll Europa der erste klimaneutrale Kontinent werden. Davon erwartet man sich wirtschaftliche Chancen und eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch neue Technologien, Produkte und Dienstleistungen "Made in Europe". Damit dies gelingt, sind hohe Vorabinvestitionen in den Umbau der energetischen Basis der europäischen Industrie notwendig, die möglichst rasch fließen müssen.

Mögliche Überförderung

Das ist allerdings auch eine Mixtur, die, wie das Beispiel der Corona-Hilfen gezeigt und die Oesterreichische Nationalbank festgestellt hat, oft zu einer Überförderung und einem stattlichen Körberlgeld führen kann. Darüber hinaus droht ein Beihilfenwettbewerb der Sonderklasse. Nicht nur zwischen den USA, Asien und Europa, sondern auch innerhalb der Europäischen Union. Deutschland und Frankreich fahren "Doppelwumms" und "Beihilfen-Bazookas" auf, was zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes beiträgt. Kleinere Mitgliedsstaaten laufen Gefahr, unter die Räder eines Beihilfenwettbewerbs zu geraten.

Eine nationale "Beihilfenmeisterschaft" oder eine "Beggar-thy-neighbour"-Politik werden nicht zum Ziel einer nachhaltig gesicherten und zukunftsfähigen Industrieproduktion in Europa beitragen. Es braucht vielmehr eine Neuausrichtung: weg von der Gießkanne und hin zu strategischen Zielvorgaben, welche an strikte soziale und ökologische Kriterien geknüpft sind. Dazu gehören Auflagen zur Standort- und Beschäftigungssicherung, zur Ausbildung von Jugendlichen und der Ausschluss bei unfairen Steuerpraktiken sowie bei arbeits-, sozial- und umweltrechtlichen Verstößen. Denn die Steuerzahlenden übernehmen durch die Beihilfen indirekt die Geschäfts- und Investitionsrisiken. Die Allgemeinheit muss für die Risikoübernahme durch entsprechende Steuerbeträge entschädigt werden. Die vehementen Forderungen der Industrie nach einer Reduktion der Gewinnsteuern sind vor dem Hintergrund der geforderten enormen Beihilfen noch mehr fehl am Platz. Das ist nichts anderes als eine Sozialisierung der (Transformations-)Risiken.

Faire Verteilung

Eine zukunftsweisende Industriepolitik kann darüber hinaus nur erfolgreich sein, wenn sie Kooperation zwischen Mitgliedsstaaten, Regionen und Unternehmen fördert. Dies betrifft insbesondere den Aufbau der Infrastruktur für eine klimaneutrale Produktion, zum Beispiel den Ausbau der erneuerbaren Energien, der Netzinfrastruktur und einer europäischen Wasserstoff- und Kreislaufwirtschaft sowie die Kooperation in einer "missionsorientierten" Forschung und Entwicklung zwischen öffentlicher Grundlagen- und angewandter Industrieforschung.

Es braucht also kein Weniger, sondern ein Mehr an einer europäisch koordinierten Wirtschaftspolitik mit einem starken Blick auf eine faire Verteilung der Kosten und echter politischer Beteiligung.

"Solidarität in der Mammutaufgabe des Umbaus hin zur Klimaneutralität kann keine Einbahnstraße sein."

Ein Grundgerüst steht dafür auf europäischer Ebene bereit: die gemeinsame Entwicklung von Übergangspfaden für besonders für Europa wichtige "industrielle Ökosysteme". Nur mit echten und ernst gemeinten Einbindungsprozessen aller relevanten Stakeholder auf Augenhöhe und der Einhaltung des politischen Versprechens der Kommission Ursula von der Leyens, "niemanden auf dem Weg zur digitalen und klimaneutralen Zukunft zurückzulassen", kann der Umbau gelingen.

Solidarität in der Mammutaufgabe des Umbaus hin zur Klimaneutralität kann keine Einbahnstraße sein. Wenn viele Milliarden Euro der europäischen Steuerzahlenden in den nächsten Jahren der Industrie zufließen, braucht es dort Verantwortung für die eigenen Lieferketten, eine adäquate gesellschaftliche Beteiligung an den Gewinnen und umfassende Standort- und Beschäftigungsgarantien. Nur dann wird die industriepolitische Wende auch die Chance sein können, um Europa rasch in eine nachhaltigere und sozialere Zukunft zu führen. (Michael Soder, 16.2.2023)