Das angebliche Selbstporträt von Leonardo da Vinci aus dem Jahr 1512. Das Universalgenie beschäftigte sich auch mit den Gesetzen der Schwerkraft und bewies dabei erstaunlich akkurate Einsichten.

Foto: Biblioteca Reale, Turin

Ohne eine genaue Beobachtung der Natur schien für Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) Malerei nicht denkbar. Nach der Überzeugung des Renaissancegenies bilden genaueste Kenntnisse in der Optik, der Mathematik und der Anatomie des Menschen das unverzichtbare Fundament jeglichen künstlerischen Schaffens. Viele Fachleute sehen in da Vinci daher auch einen Vorreiter der modernen Wissenschaften, der lange vor Francis Bacon oder René Descartes erkenntnistheoretische Ansätze der modernen empirischen Wissenschaft formulierte, ausschließlich beruhend auf Sinneserfahrung.

Für den Meister war die Welt um ihn herum ein Wunder und ganz sicher nicht deduktiv zu erfassen: Er verwarf damit die vorgegebenen theoretischen Überlegungen seiner Zeit, die sich großteils auf antike Autoren und die Bibel gründeten. Vielmehr ging er rein induktiv vor. Da Vinci führte Beobachtungen durch und nahm sie als Ausgangspunkt für die Entwicklung eigener theoretischer Ideen.

Interesse für die Schwerkraft

Einige dieser Idee kreisten auch um das Phänomen der Schwerkraft – und auch da war er in seinem Denken seiner Zeit weit voraus: Erst 1604 stellte Galileo Galilei die Theorie auf, dass die von einem fallenden Objekt zurückgelegte Entfernung proportional zum Quadrat der verstrichenen Zeit ist. Das universelle Gesetz der Schwerkraft kam dann weitere über 80 Jahre später, als Sir Isaac Newton auf Galileo und Kepler aufbauend 1687 seine "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" herausbrachte.

Dass bei der Entschlüsselung der Schwerkraft nicht Leonardo da Vinci an allererster Stelle genannt wird, könnte allein an technischen Einschränkungen seiner Zeit gelegen haben. So fehlte ihm beispielsweise ein geeignetes Instrument, um die exakte Zeit beim Fallen von Objekten zu messen.

Leonardos Codex Arundel

Aber selbst dieser Mangel an Hilfsmitteln hat den Universalgelehrten nicht davon abgehalten, mit einer Kombination aus reiner Denkarbeit und physikalischen Experimenten geniale Lösungen für das Schwerkraftproblem zu finden – das zumindest schloss ein Team um Mory Gharib vom California Institute of Technology (Caltech) in Kalifornien aus dem Codex Arundel. Die umfangreiche Sammlung von Schriften da Vincis befasst sich mit vielen wissenschaftlichen und künstlerischen Themen, die der Renaissancemeister interessant fand. Wer gerne darin blättern würde, hat in einer digitalisierten Ausgabe der British Library die Gelegenheit dazu.

Gestoßen ist Gharib auf da Vincis Notizen zur Schwerkraft, als er mit seinen Studenten Techniken der Strömungsvisualisierung im Werk des Universalgenies diskutierte. Besonders erstaunlich fand Gharib eine Reihe von Skizzen im Codex Arundel, bei denen es um Sandpartikel geht, die aus einem Gefäß fließen und Dreiecke bildeten. "Was mir auffiel, war, dass er 'Equatione di Moti' auf die Hypotenuse eines seiner skizzierten Dreiecke schrieb – desjenigen, das ein gleichschenkeliges rechtwinkliges Dreieck war. Ich wollte wissen, was Leonardo mit dieser Formulierung meinte", sagte Gharib.

In Leonardo da Vincis Codex Arundel finden sich revolutionäre Gedanken zur Mathematik der Schwerkraft.
Foto: Caltech

Verräterische Dreiecke

In seinen Aufzeichnungen beschrieb da Vinci ein Experiment, bei dem ein Krug auf einem geraden Weg parallel zum Boden bewegt wurde, wobei er entweder Wasser oder ein körniges Material – wahrscheinlich Sand – auf dem Weg ausschüttete. Bewegt sich der Krug mit konstanter Geschwindigkeit, ist die Linie, die durch das fallende Material entsteht, vertikal, sodass kein Dreieck entsteht. Wird der Krug jedoch mit konstanter Geschwindigkeit beschleunigt – auch dieses Experiment schien der Gelehrte durchgeführt zu haben –, bildet die Linie, die durch die Ansammlung des fallenden Materials entsteht, eine gerade, aber schräge Linie, die dann letztlich ein Dreieck bildet.

Ein revolutionäres Detail fand Gharib in einem Schlüsseldiagramm: Es zeigt nämlich, dass ein gleichseitiges Dreieck entsteht, wenn der Krug im selben Ausmaß beschleunigt wird wie die durch die Schwerkraft fallenden Sandkörner. Diese Illustration hat da Vinci mit dem Vermerk "Equatione di Moti" versehen, was übersetzt "Gleichsetzung (bzw. Äquivalenz) der Bewegungen" bedeutet. Mit anderen Worten: Da Vinci hatte klar erkannt, dass der Sand nicht mit konstanter, sondern mit beschleunigter Geschwindigkeit fallen würde und dass diese Beschleunigung ausschließlich nach unten durch die Schwerkraft erfolgt.

Ganz nahe an der Gravitationskonstante

Der Universalgelehrte versuchte auch, diese Beschleunigung mathematisch zu beschreiben. Ganz erreicht hat er dieses Ziel zwar nicht, aber immerhin gelang es ihm anhand seiner Berechnungen, der Gravitationskonstante bis auf 97 Prozent nahezukommen, wie die Autoren im Fachjournal "Leonardo" schreiben.

Mit seiner mathematischen Lösung kam Leonardo da Vinci dem tatsächlichen Fallgesetz schon sehr nahe.
Grafik: Caltech

Welcher Fehler da Vinci unterlaufen ist, haben Gharib und seine Kollegen aufgedeckt, indem sie das Experiment in Computermodellen nachstellten. "Leonardo hat offensichtlich mit diesem Problem gerungen. Wie wir feststellen konnten, hat er es so modelliert, dass die Entfernung der fallenden Objekte proportional zur Fallzeit steht. Tatsächlich aber ist es proportional zum Quadrat der Fallzeit", sagte Koautor Chris Roh von der Cornell University (Ithaca, New York).

Weit voraus

Da Vincis Skizzen offenbarten den Forschern auch die Ursache für diesen Irrtum: Die Diagramme zu seinen Experimenten umfassen genau jenen Zeitbereich, in dem seine fehlerhafte Formel und der tatsächliche mathematische Zusammenhang annähernd dieselben Resultate ergeben. Das dürfte den eingeschränkten technischen Gegebenheiten seiner Zeit geschuldet sein, denn mit den damaligen Mitteln war die nötige exakte Zeitmessung kaum möglich. Eine genaue Uhr hätte den Genius vermutlich auf die richtige Gleichung gebracht, meinen Gharib und sein Team.

"Wir wissen nicht, ob da Vinci weitere Experimente durchgeführt oder diese Frage vertieft hat", sagte der Wissenschafter. "Aber die Tatsache, dass er sich mit diesem Problem auf diese Weise auseinandersetzte – in den frühen 1500er-Jahren – beweist, wie weit sein Denken tatsächlich seiner Zeit voraus war." (tberg, 18.2.2023)