Ein völlig zerstörtes Haus in Kırıkhan.

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Etwas außerhalb von Kahramanmaraş liegt ein großes freies Feld. Es heißt Kabaçam, Feld der verkrüppelten Kiefern. Hier war weitgehend Ödland. Neben den von Wind zerzausten Bäumen gab es einige wenige Versuche, der kargen Erde etwas Essbares abzuringen. Seit Anfang dieser Woche ist aus dem Ödland einer der geschäftigsten Plätze im Umland des weitgehend vom Erdbeben zerstörten Kahramanmaraş geworden.

Kleinere Bagger sind damit beschäftigt, ein Netz von Kanälen ausheben. Große Lkws fahren auf den Platz, alle randvoll mit Leichensäcken. Anfangs hatte man noch versucht, die Toten nach islamischem Ritus zu bestatten. Sie waren in weiße Leichentücher gewickelt worden, ein Imam hatte die üblichen Gebete gesprochen. Dann waren die Toten in den zuvor ausgegrabenen Kanälen beigesetzt worden, eine Leiche neben der anderen. Nach einigen Tagen, als aus Kahramanmaraş immer mehr Tote angeliefert wurden, konnte man das nicht mehr durchhalten. Die Toten landeten gleich in den Leichensäcken in den Gräben; bei den Leichen, die identifiziert werden konnten, werden die Namen auf ein Holzstück geschrieben. Es sind hunderte Leichen jeden Tag, einige freiwillige Helfer, die tagelang in den Trümmern der Stadt nach Verschütteten gebuddelt hatten, schätzen, dass allein in Kahramanmaraş bis zu 10.000 Menschen gestorben sind.

Einsatz mitten im Katastrophengebiet

Wir, einige Freiwillige aus Istanbul, waren sechs Tage im Katastrophengebiet. Die größten Zerstörungen gibt es meistens in den Zentren der größeren Orte wie Kahramanmaraş, Adıyaman, Gaziantep, Kırıkhan und – am schlimmsten neben Kahramanmaraş – in Antakya in der südwestlichen Provinz Hatay. Ein großer Teil der in den letzten 30 Jahren im Zuge des schnellen Wachstums der Städte gebauten Appartementhäuser, vor allem diejenigen, die mehr als vier Stockwerke hoch waren, ist zusammengebrochen. Da einige Häuser direkt neben den zerstörten Bauten völlig intakt blieben, kann man gut nachvollziehen, wo solide und wo leichtsinnig gebaut worden war. Während vor allem in den ersten zwei Tagen nach dem Beben kaum Hilfe von außen gekommen war, insbesondere die staatliche Katastrophenschutzbehörde Afad völlig überfordert und unfähig war, angemessen zu reagieren, wimmelte es ab Donnerstag letzter Woche überall von freiwilligen Helfern aus dem In- und Ausland.

DER STANDARD

Wie viele andere zivilgesellschaftlich organisierte Initiativen aus dem Westen der Türkei hatten wir warme Kleidung, Decken und Lebensmittel eingepackt und waren losgefahren. Als wir am Freitag letzter Woche in Adıyaman ankamen, hatten einige Leute von der dortigen Industrie- und Handelskammer die Organisation der Rettungsarbeiten und die Versorgung der Überlebenden bereits erfolgreich in die Hand genommen. Wir bekamen Anweisungen, wo wir unser Zeug hinbringen sollten und wo wir mitanpacken können. Von Afad war auch zu diesem Zeitpunkt wenig zu sehen. Der zuständige Gouverneur der Region Adıyaman hatte die Bevölkerung in der Stadt durch seine Tatenlosigkeit so aufgebracht, dass das Innenministerium gezwungen war, ihn auszutauschen.

Überforderter Staat

Unsere Erfahrung im Katastrophengebiet war: Auch die schlechteste islamische Stiftung, die im Katastrophengebiet auftauchte, war immer noch besser organisiert als die staatlichen Institutionen. Seit Anfang dieser Woche sind in der Katastrophenregion genügend Kleider und Lebensmittelspenden angekommen. Was nun vor allem fehlt, sind winterfeste Zelte, in denen sich eine Familie aufhalten kann und die beheizt werden können. Da die Suche nach Überlebenden praktisch beendet ist, kommen nun Bulldozer, um die Trümmer der Häuser einzuebnen. Während die Bagger an einigen Orten sehr vorsichtig vorgehen, um noch Leichen bergen zu können, wird an anderer Stellen ziemlich rücksichtlos vorgegangen. In Antakya wurde ein Gebäude, in dem sich Büros der Stadtverwaltung befunden hatten und das nur wenig beschädigt war, ebenfalls eingeebnet. Da sich in dem Gebäude viele Bauunterlagen befunden hatten, erzählen die Anwohner von Antakya, dass die Behörden wohl ihre Spuren von Korruption und Inkompetenz verwischen wollten.

Große Empörung herrscht bei vielen freiwilligen Hilfsinitiativen darüber, dass der Staat zwar wenig tut, aber häufig privat organisierte Hilfslieferungen einfach beschlagnahmt, um sie dann von der Polizei oder anderen staatlichen Vertretern verteilen zu lassen. Zuletzt wurden sämtliche Hilfslieferungen, die die kurdisch-linke HDP in einem Krisenzentrum in Pazarcık gesammelt hatte, von der Polizei beschlagnahmt. Von den versprochenen Wohncontainern aus Katar und vom türkischen Roten Halbmond ist vor Ort noch nichts zu sehen. Viele Menschen verlassen bereits das Katastrophengebiet, um in den Metropolen im Westen des Landes bei Verwandten oder auf eigene Faust eine neue Unterkunft und Arbeit zu suchen.

Die türkische Regierung sagt offiziell, man habe 600.000 Menschen aus dem Erdbebengebiet evakuiert, es dürften aber noch sehr viel mehr sein. Einige Helfer schätzen, dass unter den Trümmern insgesamt 100.000 Menschen zu Tode gekommen sein können. Es ist jedenfalls die schlimmste Erdbebenkatastrophe, die die türkische Republik in den hundert Jahren ihres Bestehens getroffen hat. (Aufgezeichnet von Jürgen Gottschlich, 17.2.2023)