Nicht nur die Gesellschaft, auch die Kirche habe heute ein plurales Gesicht, sagt der Innsbrucker Oberhirte. Um dies als Chance zu nützen, müsse man sich allerdings dem Urwunsch nach Konformität widersetzen.

Der Bischof vor einer seiner Skulpturen: Als studierter Kunsthistoriker ist Hermann Glettler auch als Innsbrucker Oberhirte der Kunst treu geblieben.
Foto: Florian Lechner

STANDARD: Die katholische Kirche muss bei den Kirchenaustritten einen enormen Anstieg hinnehmen – 90.808 Menschen haben 2022 der römisch-katholischen Kirche den Rücken gekehrt. Wie sehr schmerzt Sie diese Entwicklung?

Glettler: Diese Entwicklung lässt mich nicht kalt. Jeder einzelne Austritt tut weh. Ich möchte die Aufmerksamkeit dennoch auf jene richten, die unserer Kirche angehören und ihren Beitrag leisten, auch finanziell. In der Diözese Innsbruck sind dies immerhin rund 360.000 Menschen. Es gibt auch Eintritte. Nicht selten sind es persönliche Krisen oder familiäre Anlässe, die Menschen wieder zurückbringen.

STANDARD: Ihre Neigung zum Optimismus in Ehren – aber der hohe Abgang der Schäfchen ist doch ein deutliches Zeichen, dass man als Kirche in vielen Bereichen nicht mehr bei den Menschen ist, oder?

Glettler: Damit benennen Sie einen wunden Punkt. Viel Vertrauen in die Kirche ist weg gebrochen. Es kann nur durch persönliche Begegnungen und echtes Interesse für die Menschen wieder aufgebaut werden. Und mit Sicherheit braucht es gerade jetzt, in dieser nervösen Zeit, viele Angebote von Seelsorge.

STANDARD: Wo sehen Sie die Gründe für die aktuelle Austrittswelle? Ist es die Missbrauchsdebatte in der Weltkirche, die sich auch auf Österreich auswirkt, die ewig "heißen Eisen" wie der Zölibat, das Frauenordinariat?

Glettler: Bestimmt ein Mix von alldem. Wir haben viele Hausaufgaben zu erledigen. Natürlich gibt es einen Trend, der viele Vereine, politische Parteien und andere Organisationen ebenso trifft: Menschen gehen auf kritische Distanz zu Institutionen. Nochmals: Ich will nichts schönreden, mache jedoch aus den Kirchenaustritten kein übertriebenes Drama.

STANDARD: Die kritische Haltung gegenüber Institutionen hat sich in der Corona-Pandemie noch massiv verstärkt. War es ein Fehler, dass sich die Kirche vielleicht zu deutlich positioniert hat? Etwa mit Aufrufen zum Impfen?

Glettler: Wir haben in einigen Momenten sicher zu panikartig reagiert. Aber wahrscheinlich als Gesellschaft insgesamt. Und es wurde suggeriert, dass wir mit all diesen Maßnahmen alles in den Griff bekommen. Aber als Verantwortlicher der Diözese war es für mich wichtig, die wesentlichen Maßnahmen mitzutragen. Letztlich sind wir aber derzeit mit einer großen Systemwut konfrontiert. Die hohe Empörungsbereitschaft macht es für Verantwortliche nicht einfach, etwas vorzugeben. Aber ja, die Kirche hat in manchen Bereichen sicherlich auch überreagiert.

STANDARD: Der Pastoraltheologe Paul Zulehner merkt an, dass Glaube heute nicht "schicksalhaft" sei. Früher sei Österreich eben katholisch und das Christentum in die Kultur eingebettet gewesen. Heutzutage gebe es eher eine Wahl, auch was Religion angehe. Können Sie der These etwas abgewinnen?

Glettler: Ja, klarer Befund. Heute fällt Religion als soziales Framing, als bestimmende kulturelle Matrix weg. Die religiöse Landschaft ist höchst plural. Das ist Irritation und Chance zugleich. Der einzelne Mensch muss wählen, sich entscheiden, sich persönlich auf den Weg machen, um zu einer spirituellen Quelle zu kommen. Den gesellschaftsbestimmenden Status traditioneller Religionen hat die Wohlstandsdoktrin eingenommen – mit allen Riten, Kommerztempeln und Opfern, die dazugehören.

STANDARD: Der neue Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung belegt einen rasanten Bedeutungsverlust der Kirchen. Über 90 Prozent der Befragten bejahen die Frage, dass man ohne Kirche noch Christ sein kann. Wie sehen Sie das?

Glettler: Ich will das Christsein niemandem absprechen. Der Geist Gottes wirkt ungeniert, auch weit außerhalb kirchlicher Zugehörigkeitsgrenzen. Wenn jedoch jemand entdeckt, dass Gott ein leidenschaftliches Herz für alle Menschen hat, dann wird diese Person auch Gemeinschaft mitaufbauen wollen. Dann steht nicht mehr das eigene Ich mit seinen Befindlichkeiten im Mittelpunkt. Aber wer weiß, vielleicht muss die Kirche noch weiter schrumpfen, um diese Authentizität wieder zu erreichen.

STANDARD: Der Supermarkt des Glaubens ist heute voll, die Menschen sind auch im Glauben sprunghafter geworden. Ich kann heute Hindu, morgen Buddhist und übermorgen Atheist sein. Stellt die katholische Kirche vielleicht einfach keine attraktiven Angebote mehr ins Regal?

Glettler: Das Bild von Handel und Konsum trifft nur bedingt zu. Aber ja, wir haben als katholische Kirche ein sehr gutes Angebot, fallen aber nicht selten beim kundengerechten Service und Frischetest durch. Der spirituelle Hunger wäre vorhanden, die Nachfrage nach frischer Nahrung und Quellwasser für Herz und Seele. Kirche ist, im Bild gesprochen, oft nur der mäßig attraktive Brunnen mitten im Dorf, uralt und renovierungsbedürftig. Das Frischwasser aus dem Brunnen muss man erst entdecken.

STANDARD: Dennoch ist die Kirche oft weit weg von der Lebensrealität der Menschen. Wie will man diese Kluft überwinden?

Glettler: Was meinen wir, wenn wir "die Kirche" sagen? Bin das ich als Bischof? Die Leiterin der Klinikseelsorge? Der Pfarrer in der Vorstadt draußen? Ist Kirche das, was DER STANDARD darüber schreibt? Ich kenne zum Glück sehr viele Gläubige, Pfarren, Sozialeinrichtungen und andere kirchliche Initiativen, die ein lebendiges Gesicht von Kirche zeigen.

STANDARD: Womit Sie elegant der Frage ausgewichen sind. Zuletzt hat aber etwa die Kontinentalversammlung zum Synodalen Prozess in Prag mehr als deutlich den innerkirchlichen Konflikt im Bereich LGBTQ+ aufgezeigt. Da scheinen die Positionen doch völlig unvereinbar zu sein. Nochmals: Ist die katholische Kirche heute nicht enorm weit weg von jeglicher Lebensrealität?

Glettler: Sorry, wollte Ihnen nicht ausweichen. Ich bin überzeugt, dass wir gerade jetzt Konsens- und Dissensfähigkeit in der Kirche brauchen. Christliche Spiritualität ist kein Einheitsbrei. Vielleicht träumen wir noch viel zu sehr von einer uniformen Kirche. Die Buntheit der Gesellschaft ist eine Chance für die Kirche – und gleichzeitig eine Zerreißprobe, die aber letztlich nicht in einem Zerwürfnis enden muss.

STANDARD: Stichwort Buntheit der Gesellschaft: Es ist ein klarer Schwenker in Richtung des rechten Lagers spürbar. Politiker hinterfragen finanzielle Unterstützung für Erdbebenopfer und die Daseinsberechtigung von Schülerinnen mit Migrationshintergrund. Müsste die Kirche hier nicht den moralischen Zeigefinger erheben?

Glettler: Es tut sehr weh, wenn humanitäre Herausforderungen in politisches Kleingeld für innenpolitische Profilierungen umgemünzt werden. Mit dem Elend von Menschen Parteipolitik zu betreiben ist schäbig. Die Kirche ist aber nicht die moralische Oberlehrerin. Als Teil der Zivilgesellschaft und verpflichtet durch den Glauben setzen wir uns für die Schwächsten ein, dazu gehören etwa auch Geflüchtete und Menschen in ihren verwundbarsten Lebensphasen.

STANDARD: Sind Sie eigentlich für Visa-Erleichterungen für türkische oder syrische Erdbebenopfer?

Glettler: Ja, sofort. Die katastrophale Situation in den Krisengebieten drängt dazu. Tausende können nicht in ihre Häuser zurückkehren, sie kämpfen gegen den Kältetod. Ich meine, wir sollten ein vernünftiges Kontingent der am schwersten Betroffenen aufnehmen, zumindest für eine bestimmte Zeit. Die engagierte "Hilfe vor Ort", die auch vom österreichischen Bundesheer und anderen Einsatzkräften vorbildlich geleistet wurde, darf nicht zur Ausrede werden.

STANDARD: Wenn es um die Kardinalsfrage geht, fällt häufig Ihr Name. Könnten Sie sich vorstellen, Kardinal Christoph Schönborn als Erzbischof von Wien nachzufolgen?

Glettler: Ich halte dieses Thema von mir fern. Ich bin sehr gerne Bischof hier in Tirol.

STANDARD: Sie werden manchmal als "Vertreter einer neuen Generation in der Kirche" beschrieben. Wäre es nicht ein durchaus spannendes Signal in Richtung Modernisierung, Sie in diese Funktion zu bestellen?

Glettler: Ich möchte mich auf keinen Fall empfehlen. Gläubig zu sein heißt aber auch antworten. Gott fordert jeden von uns heraus.

STANDARD: Ja sehen Sie sich denn als "Vertreter einer neuen Generation"?

Glettler: Das weiß ich nicht. Und mit Etikettierungen dieser Art kann ich nicht viel anfangen. Ich versuche dort, wo ich bin, auf den Anruf Gottes zu antworten, möglichst unkompliziert und mit Freude.

STANDARD: Sie gelten als "Mensch der Basis". Je höher Sie die Karriereleiter emporklettern, desto weiter weg sind Sie von dieser Basis. Wie gehen Sie damit um?

Glettler: Ich habe mir schon vorgenommen: Wenn ich als Bischof in Pension gehe, werde ich wieder Pfarrer im Multikultiviertel. Ich bin dankbar für jede persönliche Begegnung. (Maria Retter, Markus Rohrhofer, 17.2.2023)