Volker Reinhardt geht es anregend historisierend an.

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Es gebe einige wenige Schriftsteller, die in allen Lebensphasen allen zugänglich seien, meinte Stefan Zweig im Auftaktsatz seiner Studie über Michel de Montaigne (1533–1592); er zählte Hochliteraturnamen auf, Homer, Goethe, Balzac, Lew Tolstoj. Andere wiederum müsse man sich, so der Salzburger 1942 im Exil in Petrópolis 60 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro, erarbeiten und ihre Lebensbedeutung Schritt für Klarheitsleseschritt um eigene Erfahrungen, widerfahrene Enttäuschungen und auszuhaltende Lebenstiefschläge ergänzen. Montaigne gehöre dem zweiten Lager an.

Seinen projektierten Essay über den melancholisch kränkelnden Erfinder des "essai", des sinnierenden, mäandernden, subjektiven Aufsatzes über sich selbst, die Welt und den ganzen Rest, schloss der melancholisch kränkelnde Zweig nicht mehr ab, er blieb Fragment. Im Druck summierte sich dieser Versuch später auf nur 96 Seiten.

Glück des Schreibens

Mehr als dreimal so umfangreich ist die neue Montaigne-Biografie Volker Reinhardts. Der seit 30 Jahren an der kleinen Université de Fribourg in der Schweiz lehrende romanophile Historiker ist ein überaus fleißiger Autor, Biograf Voltaires, de Sades, Leonardo da Vincis und der Borgias.

"Glücklich zu leben und nicht, wie Antisthenes sagte, glücklich zu sterben führt meiner Meinung nach zur menschlichen Glückseligkeit." Dieser Satz ist mehr als 420 Jahre alt. In einer Zeit der Glückssehner, Glückssucher und einer das Phänomen "Glück" verstärkt erforschenden Psychologie mutet er erstaunlich zeitgenössisch an. Zu Papier gebracht wurde dieser Gedanke im Turmzimmer eines Schlosses in der Dordogne, das Ramon Eyquem 1477 erwarb. Dessen Urenkel, lange als Jurist an einem Gericht in Bordeaux tätig, zog sich 1569 dorthin zurück. Und schrieb ganz Ungewöhnliches, Aufzeichnungen, die er Essais nannte. Sein Name: Michel Eyquem de Montaigne.

Nun erschien 1998 Hans Stiletts neue Gesamtübersetzung der Essais und 2012 auf Deutsch – im C.-H.-Beck-Verlag, dem Stammhaus Reinhardts – das stupende Buch der Engländerin Sarah Bakewell Wie soll ich leben? oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten. Soll man im 21. Jahrhundert die Sätze dieses Renaissancemenschen lesen und über seine Gedanken nachdenken? Kann man etwas lernen von ihm, der in ganz anderen Umständen lebte, in einer ganz anderen Welt, die so gar keine Verbindungen aufweist zum digitalen Heute? Die Antwort lautet für viele: ja.

Volker Reinhardt, "Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges". € 30,80 / 336 Seiten. C. H. Beck, München 2023.
C.H.Beck

Zum Widerspruch einladend

Reinhardt zeichnet ihn aber anders, als Seinerzeitgenosse. Er präsentiert mit atmosphärisch reduzierter Farbpalette – sein Buch über Voltaire kam auf detailsatte 608 Seiten – Montaigne auf seinem einen Pferdetagesritt von Bordeaux liegenden Schloss mit von ihm erbautem Turm, in dem er oben sein Bibliotheks- und Schreibzimmer einrichtete, als skeptischen Konservativen. Nicht nur in Zeiten des Krieges, eines religiös motivierten Bürgerkriegs zwischen Katholiken und der machiavellistischen Königinmutter Katharine de Medici hier und Protestanten und Heinrich von Navarra dort. Sondern auch in Zeiten von Fanatikern und korrupter Magistrate, mörderischer Marodeure, nepotistischer Patronage und einer verheerend grassierenden Pest.

Bei Reinhardt ist Montaigne, der zweimal als recht machtloser Bürgermeister von Bordeaux amtierte, nicht der Eigentümer eines Steinbruchs, in dem Aphorismen herausgeschlagen und dann zu Lebenskunstsprüchen gemünzt werden. Vielmehr ist er ein hochironischer, doppelbödig schreibender, raffinierter Durch-die-Zeiten-Navigator und, über die Vergangenheit schaudernd und die Zukunft fürchtend, konservativer Umstürzler. Weil er in blutigen Zeiten der Inquisition, der Zensur, tiefsitzenden Aberglaubens und übermächtiger Unwissenheit in sich hineinsah und subjektiv schrieb und Einsichten zutage zu fördern gewillt war, die Zeitgenossen bis dato fremd und unerschlossen waren oder sie, wie den emotionsfeindlichen Genfer Reformator Jean Calvin, schaudern ließen ob vermuteter Dunkelheit und lauernder Bösartigkeit.

Das ist anregend, erhellend, auch zum Widerspruch einladend. Es sollte, wer kann, danach zum jüngst in Paris erschienenen Buch des lange an der University of Chicago lehrenden Franzosen und exquisiten Montaigne-Kenners Philippe Desan greifen, zu La Modernité de Montaigne. Und Reinhardts instruktive Historisierung des Denkers ergänzen durch Ausdeutung des Modernegehalts der 107 Essais. (Alexander Kluy, 19.2.2023)