Auch ein Fußballstadion soll die Megastadt bieten, die neun Millionen Menschen ein neues Zuhause schenken soll.

Foto: Neom

Eine Stadt mitten in der Wüste – aufgezogen als Linie: "The Line". Ein Prestigeobjekt, um dem Vorbild Dubai nachzueifern, da sind sich die Experten sicher. Trotz anhaltender Kritik am Bau selbst und trotz an den Haaren herbeigezogener Schlagworte – beispielsweise Klimaneutralität – strahlt das Projekt weit über die Grenzen Saudi-Arabiens hinaus. Mit wöchentlichen Gerüchten hält man das Utopia mitten in der Wüste zudem geschickt in den Schlagzeilen. Zuletzt wurde sogar vermutet, dass österreichische Firmen am Projekt beteiligt sind.

Urlaubsparadies

Das Stadtplanungsprojekt "Neom" soll ein smartes Utopia werden. Neben zwei aus dem Boden gestampften Reisezielen – einer Luxusinsel und einer Bergstation – sollen auch ein Industriezentrum und die Wohnstadt "The Line" entstehen. Vor allem das linienförmige Projekt, das neun Millionen Menschen ein Zuhause bieten soll, wird seit seiner Ankündigung von vielen Augen beobachtet. Keine Autos und kein CO2-Ausstoß, so die vielversprechende Ansage. Alle nötigen Schulen, Gesundheitszentren, Freizeitanlagen und Grünflächen für die Einwohner sollen in höchsten fünf Minuten zu Fuß erreichbar sein. Für längere Strecken, etwa zum Fußballstadion, soll ein komplett automatisiertes Verkehrsnetz entstehen, beispielsweise ein Hochgeschwindigkeitszug. Die gesamte Infrastruktur wie Müllablagerung, Energie und Lieferlogistik liegt unterirdisch. Das klingt alles nach Science-Fiction, wird aber gerade in der Wüste Saudi-Arabiens mit allen erdenklichen Mitteln aus dem Sand hochgezogen, wie Bauarbeiten beweisen.

Abseits von viel Kritik über Zwangsumsiedlungen der ehemaligen Bewohner dieser Gegend sorgt auch die Idee hinter dem Projekt zunehmend für Unverständnis. Klimaneutralität mitten in der Wüste? 95 Prozent des Objekts sollen am Ende von einem Naturschutzgebiet umgeben sein? Die von einer verspiegelten Außenwand umrahmte Linienstadt wirft viele Fragen auf, die kaum jemand in der Branche beantworten kann.

Eine Stadt muss wie ein Organismus wachsen, sagt Martin Zechner vom gleichnamigen Architekturbüro. "Die Struktur einer linearen Stadt ist ein Gedankenfehler." Wie wächst eine solche Stadt? Warum sollte man längere Wege in Kauf nehmen, als unbedingt nötig? Städte seien auch in der Vergangenheit entlang von Verkehrslinien entstanden, aber ohne geografische Vorgaben das Zuhause von Millionen von Menschen auf diese Weise aus dem Boden zu stampfen – das sei nur wenig sinnvoll, so der Experte, der unter anderem an der Konzeption der Wiener ÖBB-Zentrale oder dem City-Ikea in Wien beteiligt war.

Was in jedem Fall funktionieren wird, ist die Idee, wichtige Infrastruktur für jeden Menschen in Gehnähe unterzubringen. Damit übernimmt man das Konzept des Superblocks, das schon in bestehenden Städten zur Verkehrsberuhigung eingesetzt wird. Eine moderne Interpretation mittelalterlicher Strukturen, wo die Nahversorgung noch wesentlich wichtiger war als die Entwicklung in modernen Städten, wo Einkaufszentren und Online-Handel diese Nahversorgung eher ausgedünnt haben.

Viele Brancheninsider hielten das Projekt bis vor Kurzem noch für nicht umsetzbar – kürzlich begannen aber tatsächlich die Bauarbeiten.
Foto: Arabian Business

Klimaneutral – mitten in der Wüste

Neben der hohen Lebensqualität wirbt das Projekt aktuell mit dem Ziel der Klimaneutralität und dem nicht vorhandenen CO2-Ausstoß, da man beispielsweise keine Autos in der Stadt zulässt. Eine positive CO2-Bilanz würde aber mit Sicherheit einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern, ergänzt Thomas Wernbacher von der Donau-Universität Krems. "Die vorgelagerten Emissionen, die derzeit durch den Bau bestehen, muss man schon auch mitbedenken." Selbst wenn die Stadt selbst dann ab Tag eins effizient laufen würde, sei der Negativabdruck zu diesem Zeitpunkt schon sehr tief.

Auffallend in den bisher veröffentlichen Konzepten ist die massive Begrünung – überall sind kleine Parks und Bäume zu sehen, die die kalten Häuserschluchten nicht nur erträglich machen, sondern auch ein Konter gegen die steigenden Temperaturen sein sollen. Klimaresiliente Stadtplanung ist auch in Österreich ein Thema, weiß Architekt Zechner. "Die Maßnahmenkataloge, was die Anforderungen an Fassadenbegrünung betrifft, werden zunehmend dicker." Ein heimisches Beispiel wäre die Seestadt Aspern in Wien, wo in diesem Bereich schon viel umgesetzt wird. In vielen Fällen und damit meint Zechner auch das Wüstenprojekt, sei das aber Greenwashing. "Die Begrünung ist sinnvoll, aber oftmals wird parallel dazu auf effizienten Energieverbrauch oder einen vernünftigen Lebenszyklus einer Immobilie vergessen.

Neben "The Line" werden im Rahmen des Projekts "Neom" noch drei andere Ideen umgesetzt – eine davon ist die Urlaubsinsel Sindalah.

Teurer Spaß

500 Milliarden Dollar soll das Stadtplanungsprojekt kosten, das unter der Schirmherrschaft von Kronprinz Mohammed bin Salman entsteht. Zwölf Architekturbüros sollen mittlerweile an dem Projekt mitarbeiten. Laut Gerüchten auch die Wiener Büros Coop Himmelb(l)au und Delugan Meissl Associated Architects, wie die "Presse" Anfang Februar berichtete. 170 Kilometer lang soll "The Line" werden und nur 500 Meter breit. Daraus ergibt sich eine Fläche, die etwa zwei Prozent von London entspricht, aber gleich viele Einwohner haben soll.

2030 soll das Projekt, für das auch das britische Beratungs- und Ingenieursunternehmen Atkins kürzlich angeworben wurde, fertig sein. Ziel sei es, "Menschen, Daten und Technologie nahtlos zusammenzubringen", wird Philip Hoare, Präsident von Atkins, in der "Arabian Business" zitiert wird.

Daten sind generell ein wichtiges Thema für die smarte Stadt, sagt auch Zechner. Verkehr und sogar Aufzüge sollen sich automatisiert den Menschen anpassen, die die Stadt bevölkern. Lange Wartezeiten für irgendein Transportmittel sollen so vermieden werden. Dazu müssen allerdings Daten gesammelt werden, durch Kameras und Chips, um das Verhalten der Einwohner zu "lernen". Das sei der Preis, den man zahlen muss, wenn man in eine automatisierte Stadt zieht, sagt der Architekt.

Der Einsatz von künstlicher Intelligenz, wie es "The Line" etwa mit einem digitalen Zwilling der Stadt propagiert, sei in der Stadtplanung mittlerweile üblich. "KI-gestützte Simulationen mit digitalen Modellen werden schon lange gemacht, um beispielsweise Windkanäle oder den Einfall von Sonnenlicht vorab durchzuspielen."

NEOM

Stadt der Zukunft

Angekündigt im Rahmen der Vision 2030, soll das auf rund 500 Milliarden Dollar geschätzte Projekt die Wirtschaft von Saudi-Arabien diversifizieren und mehr Unabhängigkeit vom Öl schaffen. Mit einer von Robotik, künstlicher Intelligenz und autonomen Fahrzeugen getragenen Zukunftsvision will man sich einen modernen Namen machen. Die Kritik, angefangen von der fragwürdigen Umsiedlung der ehemaligen Bewohner der Gegend bis hin zu der unnatürlichen Form der Stadt, perlt an den Verantwortlichen aktuell ab, wie künftig Regen an den verspiegelten Wänden von "The Line".

Dieses Projekt sei vor allem die Idee eines autoritären Machthabers, der nicht die Effizienz in den Vordergrund stellt, sagt Zechner. "Solche Projekte lassen sich gut und einfach vermarkten". Hinter vorgehaltener Hand würde man in der Branche "The Line" regelmäßig hinterfragen. Offen gesprochen wird darüber aber selten, weil alle Beteiligten natürlich viel Geld mit diesem aus dem Sand gehobenen Wahnsinn verdienen.

In Österreich müsse man solche Superstädte nicht befürchten, das würde schon der überschaubare Platz nicht zulassen. "In unseren Breiten muss man mit dem Bestand arbeiten, diesen umbauen und modernisieren", sagt Zechner. Aktuelle Herausforderungen seien vielmehr explodierende Städte in Afrika, etwa Lagos. 23 Millionen Menschen würden dort aktuell bereits leben, und in den nächsten Jahren soll sich diese Zahl noch verdoppeln – bis ins Jahr 2100 sogar vervierfachen. Hier die nötige Infrastruktur parallel dazu mitwachsen zu lassen, sei gerade eine international gestellte und sehr drängende Frage.

Beispiele für erfolgreiches Wachstum von Städten gibt es. Die chinesische Megametropole Shenzhen, heute Standort für zahlreiche chinesische Hightech-Unternehmen, hatte vor 50 Jahren rund 22.000 Einwohner. Im Jahr 1990 waren es schon 845.000. Heute leben knapp 20 Millionen Menschen dort. (Alexander Amon, 18.2.2023)