Friede und Hoffnung für die Ukraine sind überaus wünschenswert. Ob sich das für 2023 verwirklichen lässt, bleibt trotz Graffiti-Message fraglich.

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Der Historiker Timothy Snyder schreibt zu Recht, das moderne Russland sei ein faschistischer Staat. Bis zum Jahr 2022 haben die meisten von uns entweder nicht erkannt, dass er keineswegs übertreibt, oder der Faschismus von Putins Russland war noch nicht vollständig zutage getreten. Über den Schrecken der russischen Invasion in die Ukraine gibt es bereits viele treffende Analysen. Doch vielleicht sind persönliche Geschichten jetzt eindringlicher. Natürlich ist jede dieser Geschichten einzigartig – doch es gibt Millionen davon. Sollte ich eines Tages überall das schreiben können, wird das Buch "Eine Million Geschichten" heißen.

Die letzte Nacht des Friedens

Ich bin immer noch froh über zwei Dinge: Erstens, meine Frau Oksana und ich hatten überlegt, ob wir mit unseren beiden Kindern zum ersten Mal in den Herbst- oder Frühjahrsferien ins Ausland ans warme Meer fahren sollten. Ich bin froh, dass wir in den Herbstferien gefahren sind. Ich will nicht behaupten, dass es für die Kinder eine genauso gute Reise war – aber immerhin war es eine.

Zweitens, meine Söhne und ich übernachten manchmal im Zelt bei uns in der Wohnung. Wir sagen dazu, dass wir uns "auf Wanderungen vorbereiten, wenn wir größer werden", aber vor allem ist es ein Vorwand, um aneinandergekuschelt einschlafen zu können. Schön, aber unbequem. Hart. Ich bin vierzig, und mir tut der Rücken weh. Nachts wache ich auf und ziehe zu Oksana auf die orthopädische Matratze um. Aber das Wichtigste ist, mit den Köpfen der Kinder auf meinen Schultern einzuschlafen. Am letzten Abend des Friedens waren die Kinder nicht gerade artig. Oksana und ich wollten ihnen "das Zelt wegnehmen", haben sie dann aber "begnadigt". Und so schlief ich in der letzten Nacht des Friedens mit meinen Söhnen im Arm ein, in dem Zelt im Kinderzimmer. Wir kicherten.

Am ersten Tag des Krieges

Vor allem bin ich froh, dass sich auch die Kinder daran erinnern. Sie sind jetzt in Deutschland. Unter dem Vorwand, mit ihnen Ukrainisch zu üben, lasse ich sie kurze Aufsätze schreiben. Natürlich geht es mir nicht um Handschrift und Rechtschreibung, mich interessiert, was in ihnen vorgeht. Der Älteste schrieb, ich zitiere wortwörtlich mit nur einer Auslassung: Ich träume davon, dass der Krieg zu Ende geht und Putin schnell krepiert. Wenn der Krieg vorbei ist, möchte ich, dass du nach ___ kommst und wir dir hier alles zeigen. Dann fahren wir zu den Omas. Dann möchte ich nach Kyjiw fahren und im Zelt schlafen. Ich weiß noch, dass wir es nicht weggeräumt haben, als der Krieg anfing.

Wie Hunderttausende, vielleicht Millionen Ukrainer in verschiedenen Städten wachten auch Oksana und ich in der Dunkelheit von den Explosionen auf. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden gesagt hat: "Das ist es." Wir holten die Kinder aus dem Zelt und sagten: "Kinderchen, aufstehen. Wir fahren zu Oma." "Jetzt gleich?", fragte der Ältere verschlafen. "Jetzt gleich."

Hoffnung bis zum Schluss

"Sie hat euch schon lange nicht mehr gesehen", sagte ich noch, warum auch immer. Wir waren zwei Jahre nicht mit den Kindern bei meinen Eltern gewesen, vor allem aus Angst, meine Großeltern, die über achtzig sind, mit dem Coronavirus anzustecken. Aber am 24. Februar 2022 war die Pandemie in der Ukraine beendet.

Im letzten Monat des Friedens stand bei uns ein gepackter "Notfall-Rucksack" mit Dokumenten und Geld. Trotzdem haben wir es nicht geglaubt. Bis zum Schluss nicht geglaubt. In der letzten Woche des Friedens hatte ich panische Angst vor dem Feuerwerk, das aus irgendeinem Grund jede Nacht über Kyjiw knallte. Oksana und ich stritten uns sogar. Sie nannte mich paranoid. Aber dann zeigte sich, dass sie besser vorbereitet war als ich. Sie hatte vereinbart, dass ihre Freundin, die Patentante unseres älteren Sohnes, uns alle aus Kyjiw herausbringen würde, weil wir kein eigenes Auto haben.

Chapeye kämpft als Soldat für die Ukraine. Im November 2022 war er Gast im Literaturhaus München.
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Langwierige Taxifahrt

Wir müssten nur mit dem Taxi zu ihr fahren. Nach fünfzehn Minuten ist überall Stau. Es gibt kein Taxi. Wir erhöhen den Preis in der App immer wieder. Zehn Minuten, zwanzig Minuten. Eine halbe Stunde. Ich sage: "Das wird nichts, ruf an und sag ihr, sie soll allein fahren." In diesem Moment macht es "Pling", und das Telefon findet ein Taxi. Der verschlafene Fahrer: "Was ist denn los, warum sind denn so viele unterwegs mitten in der Nacht?"

Drei Tage lang fuhren wir mit Staus und Umsteigen in den Westen, "zu Oma". Normalerweise dauert das zehn Stunden. Ich saß auf dem Rücksitz verschiedener Autos, die Kinder im Arm. Wortlos, nur das Allernötigste. Die Kinder waren ungewöhnlich brav. Sogar der Jüngere, unser "Anarchist", gehorchte aufs Wort. Er war ruhig und ganz artig. Oksana hatte den verängstigten Hund auf dem Schoß, der ständig japste. Wir schwiegen die meiste Zeit und hörten Radio.

Gedämpfte Farben

Es gab keine Worte. Auch nicht in uns. Die Farben waren gedämpft, die Geräusche wie unter Wasser. Ich hatte weniger Angst, dass uns ein Geschoss treffen würde, als dass die Kinder unterwegs etwas Schreckliches sehen würden. Aber wir hatten Glück. Zweimal sind Städte, die wir bereits passiert hatten, einen halben Tag später bombardiert worden. Und dann geschah noch etwas am ersten Tag der Reise. Am ersten Tag des Krieges. Wir fuhren in einem Konvoi von mehreren Autos auf kleinen Straßen, um den Stau auf der Autobahn Richtung Westen zu umgehen. Zum Mittagessen hielten wir im Dorf der Eltern eines Mitfahrers. Ich sprach mit dem Hausherrn, einem ruhigen, freundlichen Bauern mit Schnurrbart, der etwa fünfzig Jahre alt war. Er wirkte wie die Verkörperung der Ukraine schlechthin, dieser unprätentiösen, zurückhaltenden "echten Ukraine", über die ich schreibe.

Abends erfuhren wir dann am Telefon, dass das ganze Dorf vor dem Dorfrat zusammengerufen worden war. Unser Gastgeber und die meisten anderen männlichen Dorfbewohner hatten Maschinengewehre bekommen. Die Frauen weinten. Die Männer kauerten sich zusammen und sahen weg. Spät in der Nacht erreichte die Gruppe, die uns gerettet hatte, das Dorf. Sie sollte bleiben. Wir mussten weiter. Ich bat den Sohn des Mannes, der gerade mobilisiert worden war, meine Familie am nächsten Morgen die sieben oder acht Kilometer zurück zur Autobahn zu fahren, wo uns andere Bekannte abholen Würden. Er senkte den Blick und sagte, dass er den Checkpoint nicht noch einmal passieren wolle. Und ich habe mich so geschämt. So unendlich geschämt.

Das tun, was man tun sollte

Natürlich rekonstruiere und rationalisiere ich das jetzt und analysiere die Gründe. Aber an die starke Scham, als ich nicht nur wegblicken, sondern mich gleich ganz wegdrehen wollte, daran erinnere ich mich sehr gut. Es war das erste starke Gefühl, das die verschwommene, taube, stumme Welt nach einem benebelten Tag durchbrach. Mein älterer Sohn ist neun Jahre alt. War er damals. Manches versteht er überraschenderweise besser als erwartet – und manches versteht er überraschenderweise nicht.

Wir gingen im Dorf spazieren, während wir auf die Abfahrt warteten (letztendlich sollte uns eine Freundin zum Checkpoint fahren – weil sie eine Frau ist). Mein Sohn sagte: "Ich will nicht, dass du zum Krieg eingezogen wirst." Augenblicklich antwortete ich: "Ich werde nicht eingezogen. Weil ich mich selber melde." Und ich habe versucht, meinem Kind zu erklären, dass es sich ganz, ganz selten, vielleicht einmal im Leben, und selbst das nicht bei jedem, ergibt, dass man genau das tut, was man tun sollte. Weil es einfach nicht anders geht. Mein Sohn scheint das nicht verstanden zu haben. Ich weiß nicht, ob ich es selbst so ganz verstehe.

Abgründige Ungerechtigkeit

Alle haben ihre eigenen Beweggründe. Die einen denken in Kategorien von "Patriotismus". Die anderen formulieren ihre Entscheidungen anhand der Kategorien von "Gut und Böse". Meine Frau und ich sind als linke Idealisten aufgewachsen. Aber ich werde wohl besser für mich sprechen. Denn sie ist eher intellektuell analytisch, ich bin der Emotionalere von uns beiden. In unserer Jugend ging es viel um ethische Kategorien, moralische Imperative, Reflexionen über Gerechtigkeit und existenzielle Entscheidungen. Um Tattoos mit ökologischen und sozialen Motiven. Oksana und ich haben unsere Söhne sogar nach Gerechtigkeitskämpfern benannt – einem ukrainischen und einem mexikanischen.

Und auf einmal – du hast schon die Hälfte des Lebens hinter dir, du hättest dir niemals vorstellen können, dass du so etwas jemals erleben würdest –, auf einmal bist du mit einer so realen, abgründigen Ungerechtigkeit konfrontiert. Mit dem fast metaphysischen Bösen. Als Romanautor war ich schon immer skeptisch gegenüber den "Hollywood"-Kategorien von Gut und Böse. Jetzt muss ich das einschränken. Das "Gute" gibt es wohl nicht – aber das "Böse" lässt sich klar definieren. Wenn mitten in der Nacht Zivilisten bombardiert werden. Wenn es die eigenen Kinder treffen kann. Wenn das mit Absicht geschieht.

Antikriegsliteratur

Vom ersten Tag an war klar, dass vor allem die "einfachen" Menschen würden kämpfen müssen. In der Ukraine sind das diejenigen, die in den Dörfern und Kleinstädten leben, wo sie registriert sind. Leute wie ich, oder wie der Sohn des mobilisierten Bauern, die Mittelschicht der Großstädte, sie können dort, wo sie nicht registriert sind, untertauchen und auf unbestimmte Zeit abwarten, bis sie an der Reihe sind. Uns wird niemand finden, wenn wir nicht freiwillig kommen. (…)

Ein Großteil der Kriegsliteratur, mit der ich aufgewachsen bin, ist im Wesentlichen pazifistisch. Im Westen nichts Neues von Remarque. Wanderer, kommst du nach Spa ... von Böll. Schlachthof 5 von Vonnegut. Catch-22 von Heller. In einem anderen Land von Hemingway.

"Wenn ein Krieg kommt, werde ich Deserteur"

Es schien mir unmöglich und absurd, freiwillig an einem Krieg teilzunehmen. Ich hielt mich für einen Pazifisten. Vor allem nach der Revolution von 2014, als ich sah, wie Menschen wirklich sterben. Ungerechtigkeit sollte ausschließlich mit friedlichen Mitteln bekämpft werden. Ich habe sogar Gandhis Buch Satyagraha über gewaltlosen Widerstand ins Ukrainische übersetzt. Meine Lieblingsfigur in meinem ersten Roman schrieb ein Gedicht, das mit der Zeile "Wenn ein Krieg kommt, werde ich Deserteur" begann. Aber wenn man seine Kinder unter Bombenlärm weckt, hat das alles keine Relevanz mehr.

Es gibt verschiedene Kriege. Absurde, wie den Ersten Weltkrieg, und solche, in denen der Diktator besiegt werden muss, wie den Zweiten. Gegen Putins Raketen wird Satyagraha nicht funktionieren. Gandhi konnte Hitler mit seinen Briefen nicht überzeugen. Aus bürokratischen Gründen und vor allem, um mich vor dem Militärkommissariat zu verstecken, weil ich ja Pazifist bin, aus bürokratischen Gründen bin ich immer noch nicht in Kyjiw, wo ich meine Wohnung hatte, sondern bei meinen Eltern registriert. Am ersten Morgen, als wir die Kinder hergebracht hatten, gingen Oksana und ich in die Stadt, um einen "Spaziergang" zu machen. Sie wartete in der Nähe, während ich in der Schlange der Freiwilligen beim Militärkommissariat stand. Vor dem ich mich eigentlich hatte verstecken wollen.

Zensierte Albträume

Einfacher wurde es nicht. Den ganzen ersten Monat hatte ich Albträume. Sie waren zensiert. Jedes Mal, wenn Putin mit Atomwaffen drohte, träumte ich zum Beispiel, dass mein jüngerer Bruder als Kind aus dem achten Stock fällt. Erst als ich aufwachte, wurde mir klar, dass dieser "jüngere Bruder als Kind" meinem jüngeren Sohn sehr ähnelte. Oder ich träumte, dass unser Hund von einem Auto überfahren wird – aber im Sterben mit der Stimme unseres älteren Sohnes spricht.

Einen Monat später fuhr Oksana mit den Kindern ins Ausland. Als sie mir ein Foto von den Kindern in einem Lager für Geflüchtete schickte, weinte ich zum ersten Mal seit Kriegsbeginn. Seitdem habe ich mehr geweint als wahrscheinlich mein ganzes Erwachsenenleben zuvor. Dann hatte ich das Gegenteil von Albträumen, für die es in meiner Sprache kein eigenes Wort gibt. Man träumt, dass man mit den Köpfen der Kinder auf den Schultern einschläft. Oder mit den Kindern im Wohnviertel spazieren geht. Aber plötzlich löst sich das alles auf. Man hält sich an den Kindern fest, klammert sich an realistische Details, sagt zu den Kindern: "Wenn das nur kein Traum ist" – aber alles löst sich auf, und man erwacht unter Tränen wieder im Albtraum der Realität. (…)

Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko (Hg.), "Aus dem Nebel des Krieges: Die Gegenwart der Ukraine". € 21,50 / 240 Seiten. Suhrkamp, 2023. Das Buch erscheint am 13. März.
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Absurde Propaganda

Jetzt vergleicht sich Putin offen mit Peter dem Großen, der Ländereien für das Imperium "sammelte". Aber zu Anfang sagte er, er wolle die Ukraine "entnazifizieren". Interessanterweise empört Propaganda umso mehr, je absurder sie ist. Ja, es gab tatsächlich ein paar Neonazis in der Ukraine – ich habe sie in einem meiner Romane kritisiert. Sie waren jedoch eher eine Randerscheinung – es gab in der Ukraine nicht einmal starke rechte Parteien wie die deutsche AfD –, und jetzt scheint der rechte Diskurs noch marginaler geworden zu sein. Interessanterweise gibt es in meiner persönlichen Blase mehr Freiwillige unter den Linken als unter denjenigen, die sich wenigstens als "Patrioten" bezeichnet hatten. Vielleicht zeigt das nur, dass ich mit echten "Linken" und falschen "Patrioten" gesprochen habe. Vielleicht ist es aber auch nur ein nicht repräsentativer Zufall.

Einer der klügsten Menschen, die ich je kennengelernt habe, ist ein Menschenrechtsaktivist, der aus anarchistischen Kreisen kommt, Sprecher des UNHCR war, Migranten aus Asien verteidigte und gegen die extreme Rechte sowohl in der Ukraine als auch in Russland kämpfte. Er war Mitbegründer der Bewegung des 19. Januar zum Gedenken an die von russischen Neonazis Getöteten und hat sich freiwillig gegen die Putin'sche Aggression gestellt. Während dieser Text entsteht, befindet er sich in Kriegsgefangenschaft. Die russische Propaganda hat schon versucht, ihn zu einem "Nazi-Liberalen" (was auch immer das bedeuten soll) zu machen.

Ein weiterer Idealist, den ich immer mal wieder an unerwarteten Orten in verschiedenen Ecken der Ukraine treffe, ist ein christlicher Mystiker. Wir beide – ein überzeugter Atheist und ein ekstatisch Gläubiger – lernten uns an unserem wilden Lieblingsstrand an der Grenze zwischen der Ukraine und Rumänien kennen und verspürten sofort gegenseitige Sympathie und Respekt. In absehbarer Zeit werden wir wohl nicht an diesen Strand fahren: Vor kurzem wurde in der Nähe ein Mann durch eine Mine getötet. Das zweite Mal traf ich den Mystiker auf einer Kundgebung von Impfgegnern, wo er zu den Hauptakteuren gehörte und ich zur sarkastischen Presse – und trotz unserer gegensätzlichen Positionen wuchsen gegenseitige Sympathie und Respekt. Beim dritten Mal fuhr ich, als ich schon in der Armee war, in eine abgelegene Kleinstadt, um einen "Deserteur" einzufangen. Ich hatte schon die Handschellen herausgeholt, aber dann umarmte ich ihn. Es stellte sich heraus, dass es der Mystiker war, der erfolglos und ungeschickt versucht hatte, sich als Freiwilliger zur Armee zu melden. Aus ethischen Gründen ist er Veganer. Jetzt kämpft der christliche Mystiker in der Nähe von Slowjansk an der Front. Er sagt, dass man die "Feinde ohne Zorn töten müsse, dass es einen "Kampf der hellen und dunklen Mächte" gebe.

In meiner Kompanie ist jeder Fünfte aus dem Ausland, aus der Arbeitsmigration zurückgekehrt, um sich zur Armee zu melden. Sie haben sogar Spitznamen nach dem Land, wo sie gearbeitet haben: Tscheche, Finne, Deutscher. Einer von ihnen hat mir heute besorgt erzählt: "Weißt du, in letzter Zeit bekomme ich von der ukrainischen Hymne eine Gänsehaut. Das ist nicht gut. Das bedeutet, dass ich leicht auf Provokationen reagiere. Die Hymne ist doch eine Provokation. (Ich muss sagen, dass auch ich, der ich in der Ukraine für meinen Sarkasmus in Bezug auf den offiziellen Patriotismus kritisiert wurde, in letzter Zeit den Eindruck habe, dass die Worte unserer Hymne gerade sehr wörtlich zu nehmen sind.) (…)

Ist das Motiv der Ukrainer ein traditioneller "Nationalismus, sei es auch in Form eines "nationalen Befreiungskampfes"? Mir scheint, dass es jenseits der staatlichen Propaganda eher um universelle Gerechtigkeit geht. Und darum, die Bedeutung des jetzigen Kampfes zu verstehen.

Zentrum und Peripherie

Vielleicht liegt es am Schlafmangel, aber während einer Nachtwache hatte ich den Eindruck, dass wir uns gerade in einer Zeit und an einem Ort befinden, wo von uns buchstäblich die Zukunft des Planeten abhängt. Unfreiwillige "Guardians of the Galaxy". Wir können nicht jemand anderen an unsere Stelle setzen.

Wir können nicht wollen, dass andere für uns Risiken eingehen und leiden – denn dann droht alles außer Kontrolle zu geraten, und vielleicht steht sogar das Überleben des Planeten auf dem Spiel. Und wir können es uns nicht erlauben aufzugeben, wir müssen die Diktatur zermürben – sonst wird das Leben auf dem ganzen Planeten noch schlimmer werden, und es wird weniger Freiheit geben. Natürlich werden die Menschen im "Zentrum der Welt", sobald alles vorbei ist oder sogar schon vorher, unsere Peripherie wieder einmal vergessen, und in ihren Geschichten werden sie selbst die Schlüsselposition einnehmen, eine Rede von Präsident Biden, der Soldat James Ryan. Nun ja. So it goes, wie Vonnegut schrieb. Gegen unseren Willen befinden wir uns in einer Zeit und an einem Ort, welche die Geschichte für die nächsten Jahrzehnte bestimmen könnten. Wir dürfen nicht kapitulieren, das würde den Vormarsch der Dunkelheit bedeuten. Und wir können nicht verlangen, dass andere für uns kämpfen. Dass die Amerikaner einen Dritten Weltkrieg riskieren. Dass oppositionell eingestellte Russen ihr Leben riskieren und nicht nur Erklärungen gegen das Regime abgeben. Denn wir würden es auch nicht riskieren und nicht sterben, wenn wir die Wahl hätten. So it goes. (…)

Als ich zum Militärkommissariat ging, dachte ich Dinge wie: "Alle werden doch nicht getötet ... vielleicht jeder Zehnte." Zu der Zeit redeten alle von Partisanenkampf und Javelins. Wie die meisten Menschen rechnete ich damit, dass Putin meine Stadt in ein paar Tagen einnehmen würde. Ich stellte mir vor, dass ich als Partisan mit einer Javelin durch die Wälder in der Umgebung besetzter Städte laufen müsste. Aber es kam anders – wahrscheinlich gerade deshalb, weil Hunderttausende dieselbe Entscheidung trafen: zu kämpfen, statt wegzulaufen, wie Putin es erwartet hatte.

Aktiver Widerstand

Und jetzt schütze ich also in den Wäldern ein strategisches Objekt vor Saboteuren der Besatzer. Die Atmosphäre, das Gelände und sogar das Licht im morgendlichen Wald erinnern mich an ein anderes Buch des Autors von In einem anderen Land – sie erinnern mich an Wem die Stunde schlägt von Hemingway. Ich denke oft daran, wie die Hauptfigur auf die Frage, wann er beschlossen hat, gegen den Faschismus zu kämpfen, antwortet, als er verstanden habe, was Faschismus ist. Konkrete Termini zu diskutieren hat wenig Sinn, aber "Frag nicht, für wen die Stunde schlägt; sie schlägt für dich". Ich fühle mich von dem Gedanken getragen, dass ich, indem ich mich zur Armee gemeldet habe, zumindest von einem passiven Opfer zu einem aktiven Teilnehmer am Widerstand geworden bin. Wogegen genau wehren wir uns? Gegen die Einschränkung unserer Freiheit. Wofür kämpfen wir? Natürlich nicht für das absolute Gute. Wir sind keine "Krieger des Lichts", sondern ganz gewöhnliche Menschen mit all ihren Unzulänglichkeiten. Wir kämpfen für ein gewöhnliches, unvollkommenes Leben, zu dem ich einfach nur zurückkehren möchte.

Meine Kinder habe ich seit vier Monaten nicht gesehen und ich weiß nicht, wie lange ich sie nicht sehen werde. Als ich fuhr, schenkten sie mir eine billige Bastelschlange. Natürlich riss die Schnur, die die Teile zusammenhielt, sofort, aber jetzt sind diese Dreiecke, diese Fragmente, eine Metapher für unser Leben. Und diese Fragmente sind auf einmal das Wertvollste, was ich jetzt habe.

Oksana sagt, sie wolle nichts fühlen. Ich hingegen möchte alles fühlen, so intensiv umfassend wie möglich. Und ich bin so froh, dass Oksana, die Kinder, meine Eltern und Brüder einfach da sind. Es ist eine so starke Liebe wie nie zuvor. (Artem Chapeye, 21.2.2023)