Sebastian Kurz (links) musste als Kanzler und ÖVP-Chef das Feld räumen, er zog sich vorerst komplett aus der Politik zurück, vielleicht nicht für immer. Ihm folgte Karl Nehammer, zuvor Innenminister.
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Karl Nehammer ist der Verwalter des Minus. Nach dem Höhenflug der ÖVP unter Sebastian Kurz muss sein Nachfolger als ÖVP-Chef und Kanzler eine Niederlage nach der anderen einstecken – und weiteres Ungemach droht, scheinbar unaufhaltsam. Ginge es nach den Umfragen, wäre Nehammer gar nicht mehr Kanzler, die ÖVP rangiert zuletzt meist auf dem dritten Platz. Die große Erholung ist nicht in Sicht.

1. Karl Nehammer

Nehammer drohe im Moment dennoch nicht Opfer einer innerparteilichen Revolte zu werden, sagt jemand mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Partei und in Regierungskabinetten der ÖVP. Es gebe niemanden, der sich vordränge. Doch Nehammer ist es nicht gelungen, nach dem Abgang von Sebastian Kurz für sich und seine Partei ein klares Profil zu entwickeln. Dem stimmen auch viele innerhalb der Volkspartei zu.

Keine Gegenmittel

Direkt nach seiner Amtsübernahme Ende 2021 wollte sich Nehammer – in Abgrenzung zu Kurz – als Verbinder inszenieren, ein Kanzler sein, der die Opposition, Interessenvertreter und Fachleute einbindet. Das hat ihm Wohlwollen der Grünen und manch anderer eingebracht – konnte aber die Krise der durch Affären und Skandale gebeutelten ÖVP nicht überspielen. Dann sollte Nehammer zum "Krisenkanzler" mutieren, er entwickelte einen starken außenpolitischen Fokus. Spätestens durch die Teuerung wurde auch das zu wenig, um in der Bevölkerung zu punkten.

Inzwischen versuchen Nehammers Strategen, ihn als Kanzler zu vermarkten, der an allen Fronten zumindest sein Bestes gibt – darüber hinaus hat er die Themen Asyl und Migration wieder zur Chefsache erklärt. Dennoch – und das hat die Landtagswahl in Niederösterreich eindrücklich gezeigt – scheint die ÖVP kein Gegenmittel gegen den Aufwärtstrend der FPÖ parat zu haben. Die Versuche, angesichts der harten Rhetorik von FPÖ-Chef Herbert Kickl in Asylfragen selbst den harten Mann zu markieren, erwecken eher den Eindruck der Hilflosigkeit als der Stärke.

Pandemieaufarbeitung

Mit der Einsicht, dass die ÖVP als bestimmende Regierungspartei mit den Corona-Maßnahmen während der Pandemie möglicherweise über das Ziel geschossen und einen erheblichen Teil der Wählerschaft nachhaltig vergrämt und der FPÖ zugetrieben hat, versucht Nehammer jetzt gegenzulenken. Er will einen Versöhnungsprozess einleiten und die Pandemiepolitik aufarbeiten. Ob das noch hilft, um den Ärger, der sich vor allem in den ländlichen Gemeinden aufgestaut hat, abzubauen, ist fraglich. Für März hat er nun eine Kanzlerrede angekündigt, in der er seine Vision für "Österreich 2030" darlegen möchte.

"Nehammer kann nur Sicherheit, ein Kanzler braucht aber mehr Breite", sagt ein langjähriger ÖVP-Berater. Besonders auffällig sei das bei Wirtschaftsthemen. Manager und Unternehmer hätten im Kabinett des Kanzlers keine wirklichen Ansprechpartner. Man wisse bei Nehammer nicht, welche Linie er vertrete. Wenn Nehammer über Wirtschaft spreche, gehe das schief – wie damals mit seiner Aussage über die Krisengewinne der Energiewirtschaft, nach der der Kurs der Verbund-Aktie in den Keller rasselte. Bei der Blockade des Schengen-Beitritts habe er völlig vergessen, dass Rumänien ein gewaltiges Gasfeld im Schwarzen Meer entwickeln wolle und der österreichische Erdölriese OMV daran höchst interessiert sei.

Wofür steht die ÖVP unter Karl Nehammer also? Wirtschaftspartei? Konservative Kraft? Oder doch lieber die breite Volkspartei für alle? Eine salonfähige FPÖ? Was ist der neue türkis-schwarze Markenkern?

Nehammer müsse nun wirklich bald klarmachen, wofür die ÖVP stehe, sagen viele in seiner Partei. In Wirtschaftsfragen, aber auch bei gesellschaftspolitischen Themen wie etwa der Bildung. Man müsse zwar anerkennen, dass sich der Kanzler im dauernden Krisenmodus befinde und dadurch abgelenkt sei, sagt ein Türkiser. Doch schlussendlich brauche es mehr Klarheit.

Die ÖVP begehe außerdem den taktischen Fehler, so stark auf Asyl zu setzen. Es sei ein Trugschluss, dass man ohne die Kommunikationsqualitäten von Kurz eine rechte Migrationspolitik plausibel machen könne. Nehammer habe vom EU-Gipfel einen gewissen Erfolg mitgebracht, die EU beginne das Thema Migration ernst zu nehmen. Doch insgesamt fehle der ÖVP die "Kompetenzzuschreibung" in dem Bereich. Die habe in der Sache die weit radikalere FPÖ.

Landeshauptleute beschäftigt

Alles in allem ist es fast verwunderlich, dass in der ÖVP – einer Partei, die immer für ihre Obmanndebatten bekannt war – die Frage, ob Karl Nehammer tatsächlich der Richtige ist, nicht intensiver gestellt wird. Schließlich droht aus Parteisicht, dass die Volkspartei nach der nächsten Wahl als Juniorpartner übrig bleibt oder, schlimmer noch, überhaupt in die Opposition geschickt wird. In der ÖVP ein unvorstellbarer Zustand.

Noch ist die große Mehrheit in der ÖVP der Meinung, dass Nehammer mehr ein Opfer der Umstände ist, als dass er selbst Fehler begangen hätte. Und dass er seine Sache nicht so schlecht macht. Er sitzt deshalb relativ fest im Sattel. Derzeit jedenfalls. Und: Die einst so mächtigen Landeshauptleute, die mit großem Selbstbewusstsein den Obmann der Partei (Frau gab es an der Spitze noch keine) bestimmt, gestützt und gestürzt haben, sind allesamt selbst in der Krise, haben genug mit eigenen Problemen zu kämpfen und daher wenig Zeit, Lust und Energie, den Kanzler zu stürzen und zu ersetzen.

Das bedeutet aber nicht, dass es keine potenziellen Nachfolgerinnen und Nachfolger gäbe – für den Fall, dass es doch irgendwann jemand Neuen braucht für die Spitze der ÖVP.

Höflich, freundlich, relativ schnörkellos: Magnus Brunner gewinnt in der ÖVP immer mehr Freunde.
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2. Magnus Brunner

Da wäre einmal Magnus Brunner, derzeit Finanzminister, der gerade nach einem üblen Sturz mit dem Elektroscooter wieder genesen ist. Der gebürtige Vorarlberger ist seit etwas mehr als einem Jahr als Minister im Amt und sowohl in der Partei als auch in der Koalitionsregierung wohlgelitten.

Auch in der Öffentlichkeit kommt der 50-Jährige gut an – oder sagen wir: immerhin besser als andere. Im APA-Vertrauensindex ist Brunner nach Wirtschaftsminister Martin Kocher, der als Experte in die Regierung kam, der beliebteste ÖVP-Politiker. Man muss dazusagen: Brunner kommt in dem Index auf einen Wert von minus eins. Das bedeutet, dass ihm nur minimal mehr Menschen nicht vertrauen als schon. Für einen österreichischen Politiker kein schlechtes Ergebnis.

Magnus Brunners Stärken sind seine unverstellte Art, die weitgehend schnörkellose Offenheit, mit der er sich ausdrückt, und die verbindende Freundlichkeit, die er vor sich herträgt. Damit unterscheidet er sich wohltuend von vielen anderen Spitzenpolitikern, denen die Erfahrung schon viel abgeschliffen und eine Funktionärssprache voller Floskeln und unverbindlicher Allgemeinplätze aufgezwungen hat.

Innerhalb der ÖVP gilt Brunner als Personalreserve, das weiß er auch selbst. Es gibt kaum jemanden, der über Brunner Schlechtes zu berichten weiß – außer in der Wiener SPÖ. Als die Wien Energie, das Energieunternehmen der Stadt, in finanzielle Schwierigkeiten geriet und der Bund Geld zuschießen musste, lieferte sich Brunner ein mediales Match mit der Wiener Stadtregierung. Seither ist er dort weitgehend verhasst.

Selbst drängt sich Brunner selten nach vorn. Würde er irgendwann von seiner Partei gefragt, stünde er aber wohl auch zur Verfügung.

Karoline Edtstadler hat sich als seriöse Kandidatin für den Parteivorsitz etabliert, sie wäre die erste Frau an der Spitze der Volkspartei.
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3. Karoline Edtstadler

Die gebürtige Salzburgerin hat bereits mehr Regierungserfahrung als Brunner, aber weniger Lobby innerhalb der ÖVP. Edtstadler beherrscht inzwischen viele Spielarten medialen Auftretens. Ihr ist die Macht der Medienpräsenz sehr bewusst, sie geht immer wieder mit selbstinszenierten Auftritten an die Öffentlichkeit, die sie neben ihrem sehr kontrollierten und strengen Gehabe als Ministerin auch in witzigen und ungezwungenen Posen zeigen – insbesondere auf ihren Social-Media-Kanälen, für die sie auch gerne Videos aufnimmt. Edtstadler haftet das Image der besonders strengen Politikerin an, das steht mitunter zu dieser Ausgelassenheit in Widerspruch.

Die Juristin und ehemalige Richterin hat jedenfalls bewiesen, dass sie ihren Job als Politikerin beherrscht – und nicht nur routiniert agiert. Sie hat eigene Vorstellungen und Zugänge entwickelt – und sich schon recht früh zumindest in Ansätzen von der Message-Control unter Sebastian Kurz emanzipiert.

Geholt wurde Edtstadler einst als türkise Staatssekretärin im Innenministerium, das damals vom FPÖ-Mann Herbert Kickl geführt wurde. Schon da war sie es gewohnt, in die Öffentlichkeit geschickt zu werden, wenn es unangenehme Neuigkeiten zu verkünden oder schwierige Entscheidungen zu verteidigen galt. Inhaltlich ist sie firm, als Staatssekretärin schickte sie Kurz in die EU-Wahl, danach war sie für die ÖVP Abgeordnete im EU-Parlament, dort auch Delegationsleiterin. Dann wurde sie zurück nach Wien geholt.

Derzeit ist sie innerhalb der Regierung für EU und Verfassung zuständig. In der ÖVP galt sie als logische Innenministerin, statt ihrer erhielt aber der Niederösterreicher Gerhard Karner den Vorzug. Edtstadler nahm die Rolle ein, die ihr zugewiesen wurde, ihre Loyalität innerhalb der Partei hat sie hinreichend bewiesen. Dennoch wird sie keinem bestimmten Lager zugerechnet, was sie in den Augen mancher verdächtig macht.

Edtstadlers Spezialgebiete sind EU, Sicherheit, Integration und Migration, inhaltlich wäre sie auf die Rolle der ÖVP-Chefin also vorbereitet. Das Manko, das ihr anhaftet, ist ihr etwas schwungvoller Auftritt, der sie vor allem in der in weiten Teilen immer noch sehr konservativen ÖVP als etwas unberechenbar erscheinen lässt. Gleichzeitig ist sie nicht übermäßig beliebt, wenn man dem APA-Vertrauensindex glaubt. Konkret liegt sie in der letzten Erhebung von Februar hinter neun anderen türkisen Regierungsmitgliedern und Staatssekretärinnen.

Edtstadler selbst wird nachgesagt, derzeit abzuwarten, wie es mit der ÖVP weitergeht. Ambitioniert sei sie. Sie soll ein gutes Verhältnis zur niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner pflegen. Interesse an höheren Weihen habe Edtstadler wohl, wird in der ÖVP gemunkelt.

Claudia Plakolm ist die Hoffnung für morgen oder übermorgen. Die Parallelen zu Sebastian Kurz sind nicht zu übersehen.
Foto: Robert Newald

4. Claudia Plakolm

Eine, die noch nicht so weit ist, aber alles tut, um dort hinzukommen, ist Claudia Plakolm, die Staatssekretärin für Jugendagenden. Parallelen zu Sebastian Kurz sind unübersehbar – und werden medial auch gerne hervorgehoben: der Hang zu einfachen und griffigen Botschaften, der übertriebene Drang zur Selbstinszenierung, das bewusst jugendliche und legere Image und, ganz formell gesehen – der Vorsitz in der Jungen Volkspartei, die ihre Machtbasis und politische Einsatztruppe ist.

Demonstrierte Bodenständigkeit

Plakolm kommt aus Walding im Mühlviertel, sie ist die Dritte von vier Geschwistern, war Schulsprecherin und demonstriert ihre Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit unter anderem an der Posaune, die sie als Mitglied einer Blasmusikkapelle gut und gerne spielt.

Plakolm macht sich damit zur Gegenthese zum abgehobenen Politiker aus der Großstadt. Sie spricht ausschließlich im breiten oberösterreichischen Dialekt, obwohl sie theoretisch auch Hochdeutsch beherrscht. Ihre Ambitionen sind unbestritten. Allerdings ist Plakolm erst 28 Jahre alt. Selbst betont sie gerne, noch nicht zu wissen, wohin das Leben sie führe.

5. Sebastian Kurz

Viele in der ÖVP trauern ihm immer noch nach. Er hat Wahlen gewonnen, die Partei auf den ersten Platz geführt, er hat für die Volkspartei das Kanzleramt zurückerobert. Sebastian Kurz hat auch Netzwerke in der Partei geknüpft und gepflegt, die halten. Vielen gilt er immer noch als Heilsbringer, als außerordentliches Talent, als logischer Anführer. Und er ist jung. Mit 36 Jahren ist noch viel Zeit für Berufsleben, da erscheint vielen eine spätere Rückkehr in die Politik als nahezu zwingend logisch: ein fulminantes Comeback nach einer öden Durststrecke – aufgepeppt mit einer Phase als Selbstständiger in der Privatwirtschaft.

Kurz ist von solchen Überlegungen durchaus geschmeichelt, versichert aber nachdrücklich und glaubhaft, dass das Kapitel Politik für ihn vorerst abgeschlossen ist. Ihm gefällt es, wie er in der Welt herumjettet, wie er Geld verdient, Kontakte knüpft und nutzen kann, wie er als Jungunternehmer erfolgreich ist. Und als ehemaliger Regierungschef aus einem EU-Staat stehen ihm viele Türen offen, vor allem auch im arabischen Raum, wo einer mit seiner Vita geschätzt wird.

Dass Kurz in absehbarer Zeit in die Politik zurückkehrt, scheint ausgeschlossen. Nicht nur, weil ihn das neue Leben fordert und ihm das jede Menge Spaß macht, sondern auch, weil ihm das alte Leben noch nachhängt: Es wird gegen ihn ermittelt, die Entscheidungen über Anklageerhebungen sind noch ausständig. Ehe nicht alle Verfahren abgeschlossen sind, ist eine Rückkehr in die Politik für Kurz nicht denkbar. Danach denkbar, wenn auch noch nicht sehr wahrscheinlich.

Lange Verfahren

Derzeit ist völlig unklar, wie es mit ihm weitergeht. In der sogenannten Inseratenaffäre wird der Altkanzler von seinem ehemaligen Parteifreund Thomas Schmid schwer belastet. Vom Finanzministerium bezahlte Umfragen sollen für parteipolitische Arbeit der ÖVP missbraucht worden sein, sagt Schmid – und das im Auftrag von Kurz. Kurz selbst bestreitet die Anschuldigungen vehement. In der ÖVP geht jeder davon aus, dass sich die Ermittlungen und – falls es dazu kommt – mögliche Verfahren noch über viele Jahre ziehen.

Eine Rückkehr von Kurz brauche aber nicht nur deshalb noch Zeit, hört man aus Kurz’ Umfeld. Wenn überhaupt, dann brauche es auch eine besondere Situation. Eine, die ihn erfordert – zumindest aus Sicht seiner Partei. Oder, wie es in Ansätzen ja schon einmal war, mit einem ganz neuen Projekt, das das System der "Altparteien" aufbricht. (Katharina Mittelstaedt, Michael Völker, Hans Rauscher, 19.2.2023)