Das politische Schachbrett und seine Figuren.
Illustration: Lukas Friesenbichler

Als der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Rede zur Lage der Nation am Dienstag dem Westen die alleinige Schuld für den Ukraine-Krieg zuschob, löste er in Europa und den USA empörte Reaktionen aus. Aber nicht überall: Die Ansicht, dass Putin vom Westen provoziert wurde, ist in verschiedenen politischen Lagern und bei Menschen mit unterschiedlichen Weltsichten weitverbreitet. Vom ehemaligen Pink-Floyd-Star Roger Waters über prominente US-Wissenschafter wie John Mearsheimer und Jeffrey Sachs bis zum deutschen Frauenbündnis Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht sowie europäischen Rechtspopulisten reicht die Allianz derer, die das "Russland ist schuld"-Narrativ infrage stellen. Es seien vielmehr die Nato-Erweiterung, das Machtstreben der USA und die Missachtung der Sicherheitsinteressen Russlands, die den Krieg verursacht hätten, sagen sie. Diese Argumente spiegeln die russische Propaganda wider, aber sie enthalten einen wahren Kern – und verdienen daher eine ernsthafte Auseinandersetzung.

Video: Was hat Wladimir Putin dem Westen vorgeworfen? Und welche Auswirkungen hat das angekündigte Aussetzen des New-Start-Abkommens? Politikwissenschafter Gerhard Mangott analysiert die Rede des Kreml-Chefs.
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Argument 1: Das gebrochene Versprechen

Die Nato werde sich keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen, sollen 1990 James Baker und Hans-Dietrich Genscher, damals Außenminister der USA und Deutschlands, dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow versprochen haben. Der Bruch dieses Versprechens sei die Erbsünde des Westens, die nun zum Krieg geführt habe. Was damals genau gesagt wurde, um das sowjetische Ja zur deutschen Vereinigung zu erhalten, ist bis heute umstritten. Manche Fachleute behaupten, dies habe sich nur auf den Boden der ehemaligen DDR bezogen und nicht auf ganz Osteuropa. Aber zahlreiche Diplomaten wie auch die US-Historikerin M.E. Sarotte, die sich in ihrem Buch "Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate" mit dieser Frage intensiv beschäftigt hat, bestätigen, dass die Botschaft, die man Gorbatschow vermitteln wollte, darüber hinausging.

Allerdings wurde eine solche Zusicherung nie schriftlich festgehalten und ist völkerrechtlich und letztlich auch politisch für spätere Generationen nicht bindend. Anders steht es mit dem Budapester Memorandum, mit dem die Ukraine 1994 das Atomwaffenarsenal auf ihrem Boden aufgab. Damals garantierte Moskau die territoriale Integrität des Nachbarstaates – und hat dieses bindende Versprechen bereits 2014 brutal gebrochen.

Argument 2: Russlands berechtigte Ängste

Das bei weitem stärkste Motiv für den russischen Angriff auf die Ukraine sei die Nato-Erweiterung, die in den 1990er-Jahren begonnen habe, sagen Kritiker des Westens. Die Nato mag zwar behaupten, sie sei ein rein defensives Bündnis, aber aus russischer Sicht, geprägt von einer Geschichte mit zahlreichen Invasionen, sei das Näherrücken der westlichen Allianz mit der Atommacht USA als Säule wie eine direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit. Das Nato-Bombardement Serbiens im Kosovokrieg 1999 und die Intervention in Libyen 2011, beides ohne oder mit unklarem Uno-Mandat, hätten die russischen Ängste weiter angefacht. Die Nato-Erweiterung habe nach dieser Lesart entscheidend dazu beigetragen, dass Putin jedes Vertrauen in den Westen verlor.

Tatsächlich wurde auch in den USA und Westeuropa die Aufnahme der osteuropäischen Staaten, und ganz besonders der drei ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum 2004, von manchen Fachleuten heftig kritisiert. Allerdings hat sich die Nato in all den Jahren auch stets bemüht, Russland in die Sicherheitsarchitektur einzubinden und so die Ängste zu zerstreuen, allerdings mit immer weniger Erfolg. Dazu kommt, dass der Beitritt zu einem Bündnis ein Recht souveräner Staaten darstellt, das ihnen ihre noch so mächtigen Nachbarn nicht verwehren dürfen.

Und so verhasst die Nato-Erweiterung in Moskau auch ist, so auffallend ist, dass sie seit dem 24. Februar 2022 in Putins eigenen Begründungen für den Krieg immer weniger vorkommt und von seiner großrussisch-nationalistischen Rhetorik verdrängt wird. Für die ehemaligen kommunistischen Staaten ist der Überfall auf die Ukraine der Beweis, wie notwendig der Beitritt zur Nato war, um sie vor russischer Aggression zu schützen.

Argument 3: Die Nato-Zusage an die Ukraine

Die bisherige Nato-Erweiterung mag Putin noch hingenommen haben, aber der Beitritt der Ukraine und Georgiens wäre ein Schritt zu viel. Denn das würde Russlands militärische Präsenz im Schwarzen Meer bedrohen und damit seinen einzigen eisfreien Zugang zum Meer. Doch genau dies hat die Nato auf ihrem Gipfel in Bukarest im Juli 2008 versprochen, zwar ohne Zeitplan, aber in deutlicher Sprache. Dass Russland kurz darauf die abtrünnige georgische Provinz Südossetien besetzte, war ein klares Warnsignal. Und als der Sturz des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im Februar 2014 die Ukraine auf Nato-Kurs brachte, war es auch kein Zufall, dass Putin die Krim besetzte, wo in Sewastopol die Schwarzmeerflotte stationiert ist.

Es gibt gute Gründe, die Nato-Zusage von 2008 als strategischen Fehler zu sehen. Einen Beitritt in Aussicht zu stellen, aber ihn nicht durchzuführen und in eine ferne Zukunft zu verschieben, hat Georgien und die Ukraine in eine besonders verwundbare Lage gebracht. Es war die US-Regierung von George W. Bush, die diese Zusage wollte, während die deutsche Kanzlerin Angela Merkel auf der Bremse stand. Heraus kam ein schlechter Kompromiss, der von allen Seiten kritisiert wurde.

Allerdings hätte es dem Kreml bewusst sein müssen, dass dieser Beitritt von der Mehrheit der Nato-Staaten gar nicht gewollt war – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Mit geschickter Diplomatie hätte Putin ihn überhaupt vom Tisch bringen können. Seine Aggressionspolitik hat das befürchtete Szenario nun viel wahrscheinlicher gemacht. Die Ukraine, Georgien und auch Moldau werden in den kommenden Jahren alles tun, um Nato-Mitglied zu werden. Und der Westen wird es ihnen kaum verwehren können.

Beim EU-Gipfel bereiteten die Staats- und Regierungschefs dem ukrainischen Präsidenten einen warmen Empfang. Mehr als Bilder der Geschlossenheit konnte Wolodymyr Selenskyj aber vorerst nicht mit zurück nach Kiew nehmen.
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Argument 4: Der Umsturz in Kiew

Auslöser für die erste russische Attacke auf ukrainisches Territorium waren die Euromaidan-Proteste in Kiew, die im Spätherbst 2013 begannen und in der Flucht von Präsident Wiktor Janukowitsch im Februar 2014 mündeten. Dessen Entscheidung, das mit der EU schon fixierte Assoziierungsabkommen auf Druck Moskaus fallen zu lassen, löste eine riesige Protestwelle aus, die schließlich ihr Ziel erreichte.

Aus russischer Sicht war der Sturz Janukowitschs ein Putsch gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten, hinter dem ein ebenso legitimes Parlament stand. Und dahinter, so die Vermutung vieler, seien die USA gestanden, die sich die Ukraine als Sprungbrett für die Umzingelung Russlands sichern wollten. Eine besonders aktive Rolle soll dabei die hochrangige US-Diplomatin Victoria Nuland gespielt haben, die aus Ärger über europäische Vermittlungsbemühungen in einem abgehörten Telefonat "Fuck the EU" ausgerufen haben soll.

Tatsächlich war Janukowitsch – nach einem manipulierten Urnengang 2004, der in die Orange Revolution mündete – 2010 in freien Wahlen an die Macht gekommen, hatte aber in den Jahren danach zunehmend autoritär und repressiv regiert. Die Kehrtwende zum EU-Abkommen schürte bei Millionen von Ukrainern die Angst, dass mit Janukowitsch im Amt der Kreml die ukrainische Politik diktieren würde – und bald von der Demokratie nichts mehr übrig bliebe. Das Beispiel Belarus, wo Putins Verbündeter Alexander Lukaschenko die einmal errungene Macht nicht mehr aus der Hand gibt, kann als abschreckendes Beispiel dienen. Und auch die Wahlergebnisse nach dem Machtwechsel zeigten, dass die große Mehrheit der Ukrainer proeuropäisch und nicht prorussisch denkt.

Argument 5: Bidens neuer Ukraine-Kurs

Warum gerade jetzt?, fragten sich viele nach dem 24. Februar 2022. Auch das lässt sich mit der Politik der USA erklären. Angesichts der milden Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass im Jahr 2014 musste Putin zunächst keine weitere Nato-Expansion fürchten, unter der Präsidentschaft von Donald Trump konnte er sogar auf die Auflösung des Bündnisses hoffen. Trump bewunderte Putin und versuchte Wolodymyr Selenskyj zu erpressen, indem er ihm zugesagte Hilfe vorenthielt, was Trump das erste Impeachment-Verfahren einbrachte.

Das änderte sich mit Joe Bidens Amtsantritt im Jänner 2021. Unter ihm rückten die USA und die Ukraine militärisch und politisch immer enger zusammen, bis hin zur Verkündung einer neuen strategischen Partnerschaft am 1. September 2021. Damals dürfte Putin den Angriff beschlossen haben, die Aussicht auf einen Nato-Beitritt der Ukraine habe ihm keine Wahl gelassen, heißt es. Allerdings war die Politik der US-Regierung eindeutig auf die Verteidigung der Ukraine ausgerichtet, die ja bereits seit 2014 Opfer russischer Aggression war – und nicht auf einen Angriff auf Russland. Das spielte sich – ebenso wie der behauptete ukrainische Genozid an ethnischen Russinnen und Russen im Donbass – nur in Putins Kopf ab.

Argument 6: Die USA wollen diesen Krieg

Für die USA ist der Ukraine-Krieg – anders als für die Europäer – ein strategischer Glücksfall. Mit relativ geringem Einsatz wird ein großer geopolitischer Rivale militärisch dezimiert. Manche sehen dies als Beleg dafür, dass die USA den Krieg wollten und nun Friedensverhandlungen hintertrieben, indem sie die Ukraine zum Weiterkämpfen drängen. Nach dieser Lesart sollen die russisch-ukrainischen Gespräche im Frühjahr 2022 in der Türkei auf Druck der USA und des britischen Premiers Boris Johnson Anfang April abgebrochen worden sein.

Doch dafür gibt es keinen Beleg. Russland zeigte keinerlei Bereitschaft zu einem Rückzug seiner Truppen und entsandte als Delegationsleiter ein politisches Leichtgewicht, den Schriftsteller und ehemaligen Kulturminister Wladimir Medinski. Es war die Ukraine selbst, die eine Waffenruhe entlang der jetzigen Frontlinie mit gutem Grund ablehnte. Und es war Selenskyj, der nach der Enthüllung der Massaker von Butscha die Verhandlungen beendete. Dass die USA den Krieg nicht provoziert haben, zeigt ein anderes Detail: Vor dem 24. Februar hatte die Biden-Regierung Putin massiv vor einem Angriff gewarnt und mit drastischen Konsequenzen gedroht. Wer einen Krieg will, tut so etwas nicht. (Eric Frey, 22.2.2023)