Eine Magna Mater Austriae (Julia Franz Richter) im Schatten nicht nur der Alpen: famose Heimatkunde im Wiener Volkstheater.

Foto: Marcel Urlaub

Am 11. November 2000 verbrannten während einer Auffahrt der Kapruner Bergbahn 155 Menschen. Elfriede Jelinek erweckte die Opfer in ihrem Stücktext In den Alpen (2002) nicht etwa zum Leben, sie rief sie auf zum Sprachrapport. Dabei verband sie den Totenappell mit dem Furor der erfahrenen Trümmerfrau: Abgetragen wurden von ihr die geläufigen Heimatmythen, die Lust am Kitzloch, das unmäßige Behagen an Pistenzauber und Après-Ski.

Doch wer immer für das größte heimische Bergbahnunglück verantwortlich zeichnet, Täter wie Opfer erklären bis heute in unschöner Eintracht ihre Unzuständigkeit. Im Wiener Volkstheater hat sich der Vorhang kaum bis Hüfthöhe gehoben, da wird mit einem Stoß der Fußspitze der angeblich wahre Übeltäter nach vorn geschoben.

Schuld hat der kleine Heizlüfter der Firma Fakir. Seinetwegen soll ein Lärchenholzkasten in Brand geraten sein, sollen Menschen verschmort, synthetische Kleidungsstücke geschmolzen sein. Den Auftakt zum spannendsten Hochamt des noch jungen Theaterjahres bildet eine strenge Untersuchung. Auf Elisabeth Weiß‘ Bühne dreht sich auf einer riesigen Leinwand ein unförmiger Komet. Haben sich die Alpen etwa nur zufällig aus unserer Mitte emporgefaltet? Bestehen sie in Wahrheit aus Weltraumstaub?

Ein zweifacher Gerichtsprozess wird in einer stark heruntergekommenen, giftgrünen Talstation – vollständig nur mit Schmutzbuffet und Kofferband – von sechs Schauspielerinnen und Schauspielern angestrengt. Jelineks ideologiekritische Kaprun-Recherche wird von einem Text-Echo flankiert, daraufhin, im mehrfachen Wortsinn, von ihm aufgehoben. Fiston Mwanza Mujilas Auftragswerk Après les Alpes stellt nicht etwa Jelineks Abbruchunternehmen in Frage. Der aus dem Kongo gebürtige Autor türmt die Sprachschuttberge nicht viel weniger virtuos, nur eben anders auf. Die Blickachse hält Mujila in den globalen, kolonial ausgeplünderten Süden gerichtet.

Reihum gehende Sprachbrocken

Was fangen die Nicht-Überlebenden an mit Brocken wie den Alpen? Reihum gehen zunächst Jelineks Satzkaskaden. Ein Kindergreis im Schulpullover (Uwe Rohbeck) spricht besonders mild und fein vom Kreuz mit den Gipfeln, von Hahnenkamm und Schiverband. Eine Alpin-Hostess (Anna Rieser) mengt Alpenvorlandtöne in ihr Gerede.

Weil Jelinek das ideologische Brimborium rund um die Vorstellungswelt "Alpinismus" nicht außer Acht lässt, hat auch der unglückliche jüdische Dichter Paul Celan (Christoph Schüchner) seinen herzzerreißenden Auftritt. Er ist der zur Unruhe verdammte Flachländer, ihn peinigt der todbringende Diskurs der Antisemiten, Jahre nach 1945, mit neuerlichem Ausschluss.

Indem Regisseurin Claudia Bossard mit wenigen, darum umso kräftigeren Bildsignalen arbeitet, haben die Volkstheater-Schauspieler alle Zeit der Welt, den zwischen Spott und Verzweiflung oszillierenden Jelinek-Speech in all seiner dunkel glänzenden Pracht zu entfalten. Der Kaprun-Strafprozess endete übrigens mit Freisprüchen für alle 16 Angeklagte. Ein kleiner Schrottberg aus Fakir-Heizstrahlern erinnert im Volkstheater an diesen wenig rühmlichen Umstand.

Der Szenenwechsel ist ein vermeintlicher. Auf kahler Bühne, unter zeitweiliger Okkupation des Zuschauerraums, zieht eine Rokoko-Punk-Fee (Julia Franz Richter) ihre immer wüsteren Planetenbahnen. Die Ära des Postkolonialismus ist angebrochen: "Frau Gartner" gibt in Mujilas Uraufführungstext eine Magna Mater Austriae mit 32 Kindern. Sie plädiert hübsch wüst, so sangeskräftig wie deklamatorisch, für eine Neuausrichtung der heimischen Wirtschaft.

Herrlich krause Musik

Im ewigen Granit der Alpen schlummern Zink, Mangan, Kupfer, Coltan und viele andere Rohstoffe. Eine Gesellschaft, die noch recht frisch im Bann des Covid-Spreadings in Ischgl steht, sollte endlich anderen die Schürfrechte über ihre Bodenschätze einräumen. Oder es gilt überhaupt, die Alpen zu verhökern, sie den Bewohnern von Linz, Warschau oder Bremen anzudrehen. Man meint, aus Mujilas herrlich krauser Textmusik höhnisches Gelächter herauszuhören.

Konterkariert wird es von der tiefen Melancholie geläuterter Protestierender von gestern: "Ich habe den Eindruck, je mehr wir protestieren, desto schlimmer wird die Situation", sagt eine gewisse "Frau Berg" (Rieser). Sie ist Richterin über die Kaprun-Täter, sie wacht am Nicht-Ort einer Flugzeugtreppe über die Lebenden wie die Toten. Der letzte Schifahrer (Nick Romeo Reimann) springt über diese Treppe dutzende Male ins Leere, er landet immerzu auf der Sprungmatte.

Oder ist es unser aller Butterseite? Es scheint, als ob dieser Gesellschaft ohnedies nicht mehr zu helfen wäre. Eben deshalb muss sie sich von Autorinnen wie Jelinek oder Mujila ins Gewissen reden lassen. Ein erschöpfender Glücksfall, wie diese wunderbare Aufführung zeigt. (Ronald Pohl, 18.2.2023)