Verschwörungstheoretiker fürchten sich vor der Einschränkung ihrer persönlichen Freiheiten.

Foto: Imago

Der Klimaschutz sei nur ein vorgeschobener Grund, vermuten sie.

Foto: Imago

Protestierende vergleichen die Situation mit den Zuständen in "Die Tribute von Panem".

Foto: Imago

Es ist noch nicht lange her, da hat in der breiten Öffentlichkeit kein Hahn nach der 15-Minuten-Stadt gekräht. Doch mit einem Schlag ist das Stadtplanungskonzept in aller Munde. Allerdings wohl anders, als es sich Vertreterinnen und Vertreter der Disziplin erhofft haben. Denn quasi über Nacht ist aus der Idee, Städte so zu gestalten, dass in 15 Minuten sämtliche Belange des täglichen Bedarfs zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sind, eine Verschwörungstheorie geworden – gegen die in Großbritannien nun demonstriert wird.

Ziel des Konzepts 15-Minuten-Stadt ist, Alltagswege kurz zu halten und es Städterinnen und Städtern zu ermöglichen, aufs Auto zu verzichten – das ist, was Stadtplaner sagen. Was die Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker nun hören ist, dass sie sich – wie in den Covid-Lockdowns – nicht mehr weiter als 15 Minuten von ihrem Wohnort wegbewegen dürfen. "Um den Planeten zu retten", sei dabei nur der vorgeschobene Grund, glauben sie; in Wahrheit wolle man damit die totale Kontrolle über die Menschen erreichen. In konventionellen sowie in den sozialen Medien ist die Rede von der Einschränkung persönlicher Freiheiten sowie der Befürchtung, das Konzept eröffne der Überwachung Tür und Tor.

Vergleich mit Panem

Auch bis in die Politik ist die Konspiration schon vorgedrungen. Kürzlich nannte der konservative Abgeordnete Nick Fletcher die 15-Minuten-Stadt im britischen Unterhaus ein "internationales sozialistisches Konzept". Und als die Stadt Edmonton in Kanada verkündete, ihre Viertel fußgängerfreundlicher machen zu wollen, wurden in den sozialen Medien prompt Fehlinformationen verbreitet und sogar der Vergleich mit der Science-Fiction-Film- beziehungsweise Buchreihe "Die Tribute von Panem" strapaziert. Darin geht es um eine dystopische Nation, bestehend aus 13 Distrikten, die von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern nicht verlassen werden dürfen.

Auf Twitter und Tiktok werden Kurznachrichten und Reels zum Thema mit dem Hashtag #GreatReset versehen. Dabei handelt es sich eigentlich um eine Initiative des Weltwirtschaftsforums für eine Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nach der Covid-19-Pandemie. Verschwörungstheoretiker vermuten dahinter allerdings den Plan einer Elite, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Die 15-Minuten-Stadt sehen sie als ein weiteres Puzzlestück in diesem geheimen Plan.

Dominanz des Autos

Was zweifelsfrei nach Paranoia klingt, hat seinen Ursprung in der völligen Dominanz des Autos in unserer Gesellschaft. "Durch die autozentrierte Stadtplanung sind es viele Menschen gewohnt, ihre Alltagswege mit dem Auto zurückzulegen, und daher ist für manche Bewohnerinnen und Bewohner das Umdenken schwierig. Es ist so, als würde man ihnen ein Grundrecht entziehen. Die Stadtplanung ist hier gefordert, die Verkehrswege so umzugestalten, dass der Umstieg leichter fällt", sagt die Wiener Stadtplanerin Cornelia Dlabaja und kennt ähnliche Befürchtungen auch hierzulande.

Während Stadtplanerinnen, Stadtplaner und diverse Städte auf der ganzen Welt aktuell bereits versuchen, den Autoverkehr zu reduzieren, sehen Verschwörungstheoretiker dahinter bereits "Klima-Lockdowns" auf uns zukommen und fürchten, das Autofahren könnte ihnen bald verboten werden. Verkehr zu beschränken wird mit Einsperren gleichgesetzt.

Proteste in Oxford

Gutes Beispiel: die britische Stadt Oxford. Sie will im nächsten Jahr ein Mautsystem und Verkehrsfiltersysteme einführen, um Staus zu reduzieren und die Bewohnerinnen und Bewohner dazu zu animieren, auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad umzusteigen. Die Autofahrten in der Stadt sollen um 25 Prozent reduziert werden. Kritikerinnen und Kritiker fürchten, "es sei den Einwohnern bald verboten, ihre Mütter zu besuchen".

Die Folge waren Proteste, an denen am vergangenen Sonntag tausende Menschen teilgenommen haben. Politikerinnen und Politiker in Oxford berichten davon, Drohungen erhalten zu haben, und von Anfragen besorgter Bürger, die fürchten, bald in ihren Wohnungen eingesperrt zu werden.

"Es ist erschreckend und traurig, welche Informationen hier gestreut werden. Es ist eine große Herausforderung, diese Menschen danach zu erreichen und ihnen zu erklären, dass sie nichts dergleichen zu befürchten haben", sagt Stadtplanerin Dlabaja. Viele ihrer internationalen Kolleginnen und Kollegen befürchten bereits, dass die derzeitige Eskalation rund um die 15-Minuten-Stadt dem Konzept an sich und der Idee, Städte autofrei zu machen, nachhaltig schaden könnte.

Nicht "natürlich"

Was sich seit vielen Jahren in unseren Städten kultiviert hat – nämlich dass Autos immer und überall fahren und parken dürfen –, ist laut Dlabaja nicht "natürlich". Gerade alte Städte wie Oxford seien nie darauf ausgelegt gewesen, dass in ihren Innenstädten massenhaft Autos fahren. Während die einen einen Affront darin sehen, ist es für die Befürworter der Verkehrsberuhigung daher auch naheliegend, dass auf Straßen wieder mehr Platz gemacht wird für Fahrradfahrerinnen, spielende Kinder und für Busse, die dann nicht länger im Stau stehen müssen. Auch wenn es für viele Menschen schmerzhaft sein dürfte, nicht mehr alle Wege mit dem Auto zurücklegen zu können, hätten Städte doch keine andere Wahl und müssten einzelne Maßnahmen wohl auch unter Zwang umsetzen, betonen etwa internationale Stadtplaner.

Entwickelt hat das Konzept der 15-Minuten-Stadt übrigens der französisch-kolumbianische Stadtexperte Carlos Moreno, Professor an der Pariser Sorbonne. Konkret könnte es etwa dadurch umgesetzt werden, dass keine reinen Wohnsiedlungen mehr gebaut werden oder in bestehenden auch Büros, Arztpraxen, Supermärkte, Freizeitanlagen und Schulen untergebracht werden.

Dabei gibt einen essenziellen Unterschied, den die Verschwörungstheoretikerinnen missverstehen. Carlos Moreno erklärte einst: Viele Menschen seien der Meinung, mit dem Auto in der Stadt Zeit zu sparen. In Wahrheit aber gehe viel Zeit verloren, um zu pendeln, im Stau zu stehen oder ins Shoppingcenter zu fahren. Die 15-Minuten-Stadt kann hier Abhilfe schaffen und Optionen anbieten, etwa im Grätzl einkaufen zu gehen oder die Schule zu besuchen. Im Idealfall merken die Bewohner der 15-Minuten-Stadt mit der Zeit, dass sie ihr Auto gar nicht mehr brauchen. Denn das Ziel ist nicht, es den Menschen zu verbieten, mit dem Auto zu fahren – sondern es ihnen zu ermöglichen; beispielsweise die Mutter zu besuchen – und zwar schnell und bequem mit dem Bus. (Bernadette Redl, 21.2.2023)