Mit dem Besuch in Kiew ist US-Präsident Joe Biden ein politischer Coup gelungen. Bis auf wenige Eingeweihte, die diese nicht ungefährliche Reise organisierten, wurden alle überrascht – Freund und Feind.

Die Welt konnte im Fernsehen mitverfolgen, wie der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte mit Präsident Wolodymyr Selenskyj entspannt aus der St.-Michael-Kirche spazierte. Sie hielten vor einer Gedenkmauer für gefallene Soldaten inne, umarmten sich.

Überraschender Besuch in der Ukraine: US-Präsident Joe Biden mit seinem Amtskollegen Wolodymyr Selenskyi in Kiew.
Foto: APA/AFP/POOL/EVAN VUCCI

Bilder sagen mehr als Worte. Im Präsidialpalast gaben sie ausführliche Erklärungen zur Lage ab. Tenor: Wir halten zusammen, wie lange es auch dauert, was dafür auch nötig ist. Die USA werden der Ukraine beistehen, die Demokratie verteidigen – wirtschaftlich, militärisch, mit ausgeweiteten Sanktionen gegen das Regime Wladimir Putins.

"Ein US-Präsident zeigt sich quasi als personalisierte Lebensversicherung des Landes."

Biden brachte Waffenhilfe mit. Aber fast noch wichtiger war die symbolische Bedeutung, die sein Auftritt mitten in einem Kriegsgebiet vermittelte: Ein US-Präsident zeigt sich quasi als personalisierte Lebensversicherung des Landes.

Das richtete sich natürlich an Moskau und an Peking, vor allem an Putin persönlich, der für den Fortgang des Krieges bzw. einen Waffenstillstand verantwortlich ist. Alle Spekulationen, wonach der Westen einknicken, die Ukraine aufgeben und Russland große Teile des Landes überlassen könnte, sind Wunschvorstellung.

Die USA laufen nicht weg, im Gegenteil. Das machte der US-Präsident physisch greifbar. Vor einem Jahr wollte der russische Präsident Kiew im Handstreich übernehmen, Selenskyj beseitigen. Daran ist er gescheitert mit seiner "militärischen Spezialoperation".

Kampf um Unabhängigkeit

Was Putin im Krieg verfehlte, das erreichte Biden ganz einfach, friedlich, im dunklen Anzug, willkommen geheißen in der Ukraine. Der Kreml darf das so verstehen: "Ich bin da, stoppt den Krieg sofort!" Für Putin ist das doppelt bitter, da er Dienstag zum Jahrestag des Angriffs eine Rede zu Erfolgen halten wollte. Ihm wurde die Show gestohlen.

Putin wird nun wohl noch mehr drohen. Der Westen sollte sich davon nicht einschüchtern lassen. Mehr als 50 Staaten der Welt unterstützen die Ukraine in ihrem Kampf um Unabhängigkeit. Bidens Besuch in Kiew noch vor seiner eigentlich geplanten Ansprache in der polnischen Hauptstadt Warschau, zeitgleich mit Putin, könnte Auftakt sein für spätere Verhandlungen, wenn Russland einsieht, dass es diesen Krieg nicht gewinnen kann. Historisch ist die Kiew-Reise schon jetzt. Sie erinnert an Europabesuche von US-Präsidenten bei wichtigen Etappen der Geschichte.

Historische Europabesuche

Im Juni 1987 flog Ronald Reagan nach Berlin, sagte vor dem Brandenburger Tor an Präsident Michail Gorbatschow gerichtet den berühmten Satz: "Reißen Sie diese Mauer nieder!" Zwei Jahre später fuhr George Bush sen. nach Ungarn, um die Demokratiebewegung zu unterstützen. Nur Monate später fiel der Eiserne Vorhang, von DDR-Bürgern überrannt.

Als der Kalte Krieg endete, folgte eine friedliche, optimistische Phase des Aufbaus eines gemeinsamen Europas. Im Jahr 2023 weisen die Vorzeichen in eine andere Richtung: neue Konfrontationen der Mächte der Welt. Dennoch: Die Kiew-Visite des ausgewiesenen Europakenners Biden könnte zum rascheren Ende von Putins Krieg beitragen. Der reagiert nur, wenn man ihm gegenüber Stärke zeigt – das heißt auch: physische und militärische Präsenz. (Thomas Mayer, 20.2.2023)