Die Situation ist für alle Beteiligten kompliziert", so fasst Raed Saleh, SPD-Fraktions- und Parteichef in Berlin, die Lage zusammen. Und damit spricht er vielen aus der Seele, nicht nur in der eigenen Partei. Neun Tage nach der Wiederholungswahl in der deutschen Hauptstadt ist immer noch offen, wer demnächst als Chef oder Chefin ins Rote Rathaus einziehen wird – und wer mit wem koaliert.

SPD-Politikerin Franziska Giffey hofft immer noch, ihr Büro im Rathaus nicht räumen zu müssen.
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Aus der Wahl war nur eine Partei als klare Wahlgewinnerin hervorgegangen: Die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner. Sie erreichte 28 Prozent und liegt somit rund zehn Punkte vor der SPD und den Grünen.

Wegner sieht sich daher als nächster Bürgermeister, er braucht allerdings noch einen Koalitionspartner. Sondiert hat er bereits mit den Grünen und der SPD. Hinterher gab es nette Worte und die Mitteilung, es seien "freundliche Gespräche" mit beiden Parteien gewesen.

Wenig erbaut ist man in der CDU hingegen von jenem Termin, den die SPD mit ihrer Spitzenkandidatin, der (bislang) Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey, für den Dienstag angesetzt hat: Um 15 Uhr hat die SPD Grüne und Linke zur ersten Sondierung gebeten. Es treffen sich also in der roten Parteizentrale jene drei Parteien, die bisher in Berlin regiert haben – und die allesamt bei der Wahl verloren.

Giffey will ausloten, ob sie nicht doch Bürgermeisterin bleiben und Wegner ausbooten kann, was dem letzten CDU-Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen (1991 bis 2001), missfällt. "Nach der ordentlichen Backpfeife für die Noch-Senatsparteien macht die parlamentarische Mehrheit diese ganz sicher nicht plötzlich zu Siegern der Wahlen", sagte er in der B.Z.

Die CDU konnte bei den Zweitstimmen, mit der in Deutschland die Parteien gewählt werden (Erststimme ist für den Direktkandidaten/die Direktkandidatin), vor allem in den Außenbezirken Berlins stark zulegen. Innerhalb des S-Bahn-Rings dominieren die Grünen.

Brief mit Revolverkugel

Apropos Grüne: Für Entsetzen sorgt derzeit in Berlin ein Brief, den die grüne Spitzenkandidatin und Verkehrs- und Umweltsenatorin Bettina Jarasch bekommen hat: In dem Kuvert, das im Abgeordnetenhaus einging, war eine Revolverkugel. Der Staatsschutz hat Ermittlungen aufgenommen, Jarasch ließ durch ihren Sprecher ausrichten, dass sie sich nicht einschüchtern lassen werde.

Vertreter und Vertreterinnen von SPD, CDU, Linke, AfD und FDP äußerten sich bestürzt. So erklärte Giffey: "Man kann immer darüber streiten, ob ein politischer Weg richtig ist. Man kann und sollte darüber kontrovers diskutieren. Aber jemanden wegen seiner politischen Überzeugungen mit Hass, Hetze, Gewalt und Drohungen zu überziehen, das überschreitet jede Grenze."

Jarasch und Giffey waren im Wahlkampf merklich auf Distanz zueinander gegangen. Nun könnten sie sich im Bündnis mit der Linken wiederfinden.

Derzeit geht Giffey noch davon aus, dass sie eine solche Koalition anführen würde. Die SPD lag nach der Wahl zunächst nur 105 Stimmen vor den Grünen. Nach einer Neuauszählung im Bezirk Lichtenberg stieg der Abstand auf 113 Stimmen an. Das endgültige Ergebnis wird aber erst am nächsten Montag bekanntgegeben. (Birgit Baumann aus Berlin, 21.2.2023)