Ein Mann hält sich nach einem neuerlichen Erdbeben in Hatay auf.

Foto: EPA / ERDEM SAHIN

Gaziantep/Idlib/Istanbul/Berlin/Damaskus – Ein weiteres Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet hat am Montagabend wieder Opfer in beiden Ländern gefordert. In der Südosttürkei stieg die Zahl der Todesopfer durch das neue Beben gegenüber Montag auf sechs. Die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad teilte am Dienstag mit, 294 Menschen seien zudem verletzt worden, davon 18 schwer. Aus Syrien meldeten Aktivisten mindestens fünf Tote.

VIDEO: Zwei Wochen nach den verheerenden Erdbeben ist der Süden der Türkei von einem Nachbeben der Stärke 6,4 erschüttert worden. Die Provinz Hatay ist am schwersten betroffen.
DER STANDARD

Der türkischen Behörde Afad zufolge hatten am Montagabend zwei Beben im Abstand von drei Minuten die Provinz Hatay mit Stärken von 6,4 und 5,8 erschüttert – 14 Tage nach der Erdbebenkatastrophe mit zehntausenden Toten. Es habe seit Montagabend 90 Nachbeben gegeben, teilte Afad mit. Die Erschütterungen waren Medienberichten zufolge auch in den umliegenden Provinzen der Türkei sowie im Norden Syriens, in Israel, im Irak und im Libanon zu spüren.

Menschen sollen nicht in Häuser zurück

Die Behörden riefen die Menschen dazu auf, nicht in ihre Häuser zurückzukehren. Medien berichteten, dass es in der Provinz Hatay zu wenige Zelte gebe und viele Menschen dennoch in beschädigten Häusern übernachteten. Die Katastrophenschutzbehörde teilte nun mit, sie habe bereits in der Nacht 6.000 weitere Zelte in die Region geliefert.

Zelte dringend benötigt

Der Bürgermeister der Gemeinde Samandag, Refik Eryilmaz, sagte am Dienstag in einem bei Youtube veröffentlichten Interview mit dem Journalisten Cüneyt Özdemir, dass es einen dringenden Bedarf an Zelten gebe. Demnach seien 15.000 Zelte notwendig. Eryilmaz warf der Katastrophenschutzbehörde Afad logistische Fehler vor. So seien zunächst keine individuellen Zelte verteilt worden, weil ein Zeltcamp errichtet werden sollte. Zudem fehle es an dringend benötigten sanitären Einrichtungen. Erst kürzlich habe Afad angefangen, Zelte zu verteilen. Die Menschen seien sehr wütend und würden die Nächte draußen in der Kälte verbringen, sagte Eryilmaz.

Auf syrischer Seite gerieten Bewohner in den Orten Aleppo, Tartus und Hama in Panik und sprangen von ihren Häusern, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte Dienstagfrüh mit. Die Aktivisten meldeten bereits kurz nach den erneuten Erdstößen 470 Verletzte, davon 320 in den von der Regierung kontrollierten Regionen und 150 in den Rebellengebieten. Auch der Chef der Rettungsorganisation Weißhelme, Raed al-Saleh, meldete 150 Verletzte für die syrischen Regionen, die von Rebellen gehalten werden.

Nach Angaben der Hilfsorganisation Sams stürzten in mehreren Orten nahe der Stadt Aleppo Häuser ein. In der Türkei starben nach Angaben des türkischen Innenministers Süleyman Soylu mindestens drei Menschen. 213 seien in Krankenhäuser gebracht worden.

Türkische Ärztekammer will bisherige Anzahl der Toten nach Erdbeben überprüfen

Die türkische Ärztekammer hat die offiziellen Angaben zur Zahl der Erdbebentoten angezweifelt. Man wolle die Zahl der Bestattungen bis Anfang März bei den Gemeinden abfragen und so die Regierungsangaben überprüfen, sagte Vedat Bulut von der Ärztekammer TTB der Deutschen Presse-Agentur.

"Wir haben Zweifel an den Zahlen", sagte er. "Als in Kahramanmaras 6.000 Todesfälle gemeldet wurden, gab es beispielsweise Bestattungsunterlagen zu 11.000 Menschen." Grund dafür könne entweder sein, dass die offiziellen Zahlen zu niedrig angegeben würden. Es könne theoretisch aber auch sein, dass Tote von ihren Angehörigen aus anderen Provinzen nach Kahramanmaras gebracht worden seien.

Nach Angaben der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad vom Montag sind mindestens 41.156 Menschen in der Türkei im Zusammenhang mit den Beben getötet worden. Bulut schätzt die tatsächliche Totenzahl auf etwa 60.000, "aber das ist momentan keine objektive Einschätzung. Wir werden die Bestattungsnummern bei den Gemeinden einholen, dann ist es klar."

Beispiellose Schuttberge in der Türkei

Das verheerende Erdbeben in der Türkei und Syrien war nach Angaben der Vereinten Nationen nicht nur nach Todesopfern das schlimmste in der türkischen Geschichte. Auch die Berge an Schutt und Geröll seien beispiellos, sagte Louisa Vinton, die Vertreterin des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) in der Türkei, am Dienstag in einem UN-Briefing in Genf. Tausende weitere Opfer und Schäden gab es in Syrien. Vinton bezog sich nur auf die Türkei.

Die Behörden hätten inzwischen 70 Prozent der 927.000 in Mitleidenschaft gezogenen Gebäude inspiziert. 118.000 davon seien eingestürzt oder so beschädigt, dass sie abgerissen werden müssten. Das UNDP schätzt den Umfang von Schutt und Asche auf zwischen 116 und 210 Millionen Tonnen. Um das zu lagern, seien sieben Millionen Quadratmeter Land nötig. Nach Angaben von Vinton fielen bei dem letzten großen Erdbeben 1999 in der Türkei 13 Millionen Tonnen Schutt und Asche an.

Deutsche Außenministerin und Innenministerin im Erdbebengebiet erwartet

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und die deutsche Innenministerin Nancy Faeser besuchen am Dienstag das Erdbebengebiet im Südosten der Türkei. Bei der eintägigen Visite wollen sich die beiden Politikerinnen ein Bild von der Lage vor Ort machen, wie ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin am Montag mitteilte. Zentrum der Reise ist Gaziantep, mit etwa 2,1 Millionen Einwohnern die sechstgrößte Stadt der Türkei, die schwer von dem Beben am 6. Februar getroffen wurde und etwa 70 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt liegt. Auch ein Besuch in Kahramanmaras nordwestlich von Gaziantep ist demnach geplant.

Baerbock und Faeser wollen den Angaben zufolge bei dem Besuch auch mit deutschen Hilfsorganisationen sprechen. Zudem gehe es um die Frage, wie der Beschluss der deutschen Bundesregierung umgesetzt werden könne, wonach Opfer des Bebens unbürokratisch für einige Zeit zu ihren Verwandten nach Deutschland kommen können sollen. Ob ein Treffen mit türkischen Regierungsvertretern geplant ist, blieb noch offen. (APA, Reuters, 21.2.2023)